Die Aufgabe
Die Aufgabe Kafkas Parabel „Vor dem Gesetz“ hat durch eine Vielzahl von Interpreten eine Vielzahl von Interpretationen erfahren. Der Reiz, der vom Text ausgeht und die Wirkmacht, die er entfaltet, sind in den Fragen geborgen, die er aufwirft. Grundsätzlich und offenkundig sind das Fragen nach dem Wesen und Wert des Gesetzes, seinem Anspruch und seiner Anwendung. Es sind Fragen nach dem Verhältnis vom Recht des Einzelnen zur Allgemeinheit des Gesetzes, Fragen danach, was es heißt, recht zu haben und doch nicht recht zu bekommen; Fragen danach, wie Zugang zum Recht gefunden werden kann und wem es zukommt, diesen Zugang zu erleichtern oder zu erschweren. Damit ist die Inspirationskraft des Textes indes keineswegs erschöpft. Hinter dem, was hier als grundsätzlich und offenkundig ausgewiesen wird, stehen Fragen nach Subjektion und Subjekt, nach Kompetenz und Autorität, nach Willfährigkeit und Willkür, nach Autonomie und Fremdbestimmtheit, nach der normativen Gestaltungskraft des Einzelnen und der Kraft des Normativen, die den Einzelnen gestaltet, nach der Möglichkeit des Widerspruchs und der Pflicht zum Widerstand, nach Inklusion und Exklusion, Mensch und Funktion, nach Identität, Individualität und Vereinzelung im Gesellschaftsverband. Der positive Rechtsrahmen, der eine politische Gemeinschaft umgibt, gibt Antworten auf die so umrissenen Fragen. Die normativen Voraussetzungen auf denen der positive Rechtsrahmen basiert und die faktischen Gegebenheiten auf die der Rechtsrahmen Bezug nimmt, erlauben diese Antworten zu reflektieren. Der Rechtswissenschaft kommt dabei sowohl die Aufgabe zu, die Antworten systematisch aufzubereiten als auch sie hinterfragend zu betrachten. Die Rechtswissenschaft und ihre einzelnen Subdisziplinen fungieren damit ihrerseits als Türhüter „vor dem Gesetz“. Mit der geplanten Veranstaltung soll das Tor zum Gesetz in Auseinandersetzung mit Kafkas Text ein Stück weit geöffnet werden, um ein wenig, ganz so wie es der Mann vom Land unternehmen will, „in das Innere zu sehen“. Freilich nicht gebückt, sondern auf Augenhöhe mit dem Gesetz und seinen Türhütern und mit umfassendem Anspruch: also aus der Sicht der Vertreter der einzelnen rechtswissenschaftlichen Subdisziplinen, in theoretischer, philosophischer, dogmatischer, soziologischer und politischer Perspektive. Der disziplinär umfassende Anspruch wirkt dabei freilich nicht inhaltlich nach: Es geht keineswegs darum, bekannte Grundsätze des eigenen Faches in loser Bezugnahme zu Kafkas Text zu deklinieren, sondern in offener Beschäftigung mit der Parabel das herauszuarbeiten, was die eigene Disziplin und ihr Gegenstand zur Problemlösung beitragen mögen; es geht, wenn man so will, darum, sich dem Gegenstand ganz bewusst mit dem eigenen professionellen Habitus und den Vorannahmen und Prägungen, die ihn ausmachen, (um nicht zu sagen: mit der jeweiligen déformation professionelle) zu widmen. Kafkas Text soll dabei sowohl als Ausgangs-, als auch als Ankerpunkt und insofern als Forum der verschiedenen Interventionen dienen.
Zum Nachlesen

Der Text
Der Text Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, daß er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen. „Es ist möglich,“ sagt der Türhüter, „jetzt aber nicht.“ Da das Tor zum Gesetz offen steht wie immer und der Türhüter beiseite tritt, bückt sich der Mann, um durch das Tor in das Innere zu sehen. Als der Türhüter das merkt, lacht er und sagt: „Wenn es dich so lockt, versuche es doch trotz meines Verbotes hineinzugehen. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehen aber Türhüter, einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des Dritten kann nicht einmal ich mehr ertragen.“ Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet; das Gesetz soll doch jedem und immer zugänglich sein, denkt er, aber als er jetzt den Türhüter in seinem Pelzmantel genauer ansieht, seine große Spitznase, den langen, dünnen, schwarzen tartarischen Bart, entschließt er sich doch lieber zu warten, bis er die Erlaubnis zum Eintritt bekommt. Der Türhüter gibt ihm einen Schemel und läßt ihn seitwärts von der Tür sich niedersetzen. Dort sitzt er Tage und Jahre. Er macht viele Versuche eingelassen zu werden und ermüdet den Türhüter durch seine Bitten. Der Türhüter stellt öfters kleine Verhöre mit ihm an, fragt ihn über seine Heimat aus und nach vielem andern, es sind aber teilnahmslose Fragen, wie sie große Herren stellen, und zum Schlusse sagt er ihm immer wieder, daß er ihn noch nicht einlassen könne. Der Mann, der sich für seine Reise mit vielem ausgerüstet hat, verwendet alles, und sei es noch so wertvoll, um den Türhüter zu bestechen. Dieser nimmt zwar alles an, aber sagt dabei: „Ich nehme es nur an, damit du nicht glaubst, etwas versäumt zu haben.“ Während der vielen Jahre beobachtet der Mann den Türhüter fast ununterbrochen. Er vergißt die andern Türhüter und dieser erste scheint ihm das einzige Hindernis für den Eintritt in das Gesetz. Er verflucht den unglücklichen Zufall, in den ersten Jahren rücksichtslos und laut, später als er alt wird, brummt er nur noch vor sich hin. Er wird kindisch und da er in dem jahrelangen Studium des Türhüters auch die Flöhe in seinem Pelzkragen erkannt hat, bittet er auch die Flöhe ihm zu helfen und den Türhüter umzustimmen. Schließlich wird sein Augenlicht schwach und er weiß nicht, ob es um ihn wirklich dunkler wird oder ob ihn nur seine Augen täuschen. Wohl aber erkennt er jetzt im Dunkel einen Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht. Nun lebt er nicht mehr lange. Vor seinem Tode sammeln sich in seinem Kopfe alle Erfahrungen der ganzen Zeit zu einer Frage, die er bisher an den Türhüter noch nicht gestellt hat. Er winkt ihm zu, da er seinen erstarrenden Körper nicht mehr aufrichten kann. Der Türhüter muß sich tief zu ihm hinunterneigen, denn der Größenunterschied hat sich sehr zu ungunsten des Mannes verändert. „Was willst du denn jetzt noch wissen?“ fragt der Türhüter, „du bist unersättlich.“ „Alle streben doch nach dem Gesetz,“ sagt der Mann, „wieso kommt es, daß in den vielen Jahren niemand außer mir Einlaß verlangt hat?“ Der Türhüter erkennt, daß der Mann schon an seinem Ende ist und, um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an: „Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.“
Franz Kafka

Vortragende und Themen
Hon.-Prof. Dr. Wilhelm Bergthaler
Universität Linz, Franz Kafka Gesellschaft, Haslinger / Nagele Rechtsanwälte GmbH
„Vor dem Gesetz“ – Hinter dem Text: Zu Kafkas Türhüterparabel
Univ.-Prof. Dr. Christoph Bezemek B.A., LL.M.
Universität Graz
Vor dem Gesetz: Nach dem Gesetz
Univ.-Prof. Dr. Harald Eberhard
Wirtschaftsuniversität Wien
Der Türhüter: Die Perspektive der Rechtswissenschaft
Univ.-Prof. Dr. Tina Ehrke-Rabel
Universität Graz
„Dieser nimmt alles an“: Recht und Obolus
Univ.-Prof. Dr. Georg Eisenberger
Universität Graz, Eisenberger & Herzog Rechtsanwalts GmbH
Der Türhüter: Die anwaltliche Perspektive
Univ.-Prof. Dr. Iris Eisenberger
Universität für Bodenkultur
Das Gesetz der Technik: Recht und Innovation
Univ.-Prof. Dr. Anna Gamper
Universität Innsbruck
Staat und Gesetz: Kafkas Staatslehre
Hofrat Univ.-Prof. Dr. Meinrad Handstanger
Universität Graz, Verwaltungsgerichtshof
Die Technik des Gesetzes: Von der Legistik
Univ.-Prof. Dr. Michael Holoubek
Wirtschaftsuniversität Wien, Verfassungsgerichtshof
Ein Mann vom Lande: Gesetz und Geburt
Univ.-Prof. Dr. Elisabeth Holzleithner
Universität Wien
Ein Mann vom Lande: Gesetz und Geschlecht
Univ.-Prof. Dr. Clemens Jabloner
Universität Wien, Hans Kelsen Institut
Vor dem Gesetz: Ferne Gerechtigkeit
Univ.-Prof. Dr. Christoph Kietaibl
Universität Klagenfurt
Die Aussperrung: Über den Kampf zum Recht
Univ.-Prof. Dr. Stephan Kirste
Universität Salzburg
"Viele Versuche eingelassen zu werden“: Von der juristischen Argumentation
Fabian Krüger
Burgtheater Wien
Der Text: Lesung
Univ.-Prof. MMag. Dr. Barbara Leitl-Staudinger
Universität Linz, Verfassungsgerichtshof
Die Medien des Rechts/Das Recht der Medien
Univ.-Prof. Dr. Georg Lienbacher
Wirtschaftsuniversität Wien
Der Türhüter: Die Perspektive der Verfassungsgerichtsbarkeit
Univ.-Prof. Dr. Franz Merli
Universität Wien
Gleichheit vor dem Gesetz
Univ.-Prof. Dr. Thomas Mühlbacher
Universität Graz, Staatsanwaltschaft Graz
„Trotz meines Verbotes“: Das Gesetz als Strafgesetz
Univ.-Prof. MMag. Dr. Andreas Th. Müller, LL.M.
Universität Innsbruck
Rechtliche Souveränität und Souveränität des Rechts:
Internationalität
Univ.-Prof. Dr. Matthias Neumayr
Universität Salzburg, Vizepräsident des OGH
Der Türhüter: Die richterliche Perspektive
Univ.-Prof. Dr. Alfred J. Noll
Universität für Bodenkultur, Abg z NR, Noll, Keider Rechtsanwalts GmbH
Gesetz und Gesetzgeber
Univ.-Prof. Dr. Bettina Nunner-Krautgasser
Universität Graz
„Von Saal zu Saal stehen Türhüter“: Vom Rechtsweg und Türschwellen im Verfahren"
Univ.-Prof. Dr. Katharina Pabel
Universität Linz
Das Recht im Gesetz: Grund- und Menschenrechte
Univ.-Prof. Dr. Stefan Perner
Wirtschaftsuniversität Wien
Der Mensch vor dem Gesetz: Vom Persönlichkeitsrecht
Univ.-Prof. DDr. Michael Potacs
Universität Wien
Das Gesetz: Vom Rechtsbegriff
Univ.-Prof. Dr. Magdalena Pöschl
Universität Wien
„Dieser Eingang war nur für dich bestimmt“
Univ.-Prof. Dr. Friedrich Rüffler
Universität Wien
„Alles, und sei es noch so wertvoll“: Das Gesetz des Marktes, das Gesetz als Marktplatz"
Univ.-Prof. Dr. Werner Schroeder
Universität Innsbruck
Das Gesetz über dem Gesetz: Supranationalität
Univ.-Prof. Dr. Alexander Somek
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Nach dem Gesetz: Kafka als Postpositivist
Univ.-Prof. Dr. Karl Stöger
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Zwischen den Gesetzen: Im Mehrebenensystem
Univ.-Prof. Dr. Martin Spitzer
Wirtschaftsuniversität Wien
„An seinem Ende“: Besitz, Bestand, Bewahrung
Univ.-Prof. Dr. Stefan Storr
Wirtschaftsuniversität Wien
Der Türhüter: Die Perspektive der Verwaltung
Univ.-Prof. Dr. Ewald Wiederin
Universität Wien
Recht und Gesetz: Kafkas Rechtsstaat