Aktuelle Forschungsprojekte
FWF-START-Projekt "The emotions we speak"
Ein Projekt zur Rolle von Emotionen im sprachlichen Verhalten und im Sprachwandel.
Die Vorhersage kontaktinduzierten Sprachwandels ist in der Linguistik ein ambitioniertes, bislang jedoch weitgehend erfolgloses Unterfangen. Als eine der möglichen Ursachen gilt das sogenannte actuation problem (Weinreich, Labov & Herzog 1968), also unsere Unfähigkeit zu bestimmen, warum ein Wandel in einem bestimmten strukturellen Merkmal zu einem gegebenen Zeitpunkt in einer bestimmten Sprache einsetzt – und nicht in einer anderen Sprache oder zu einem anderen Zeitpunkt –, sowie die zentrale Rolle sozialer Faktoren, die als inhärent unvorhersehbar gelten (Thomason & Kaufmann 1988). Hinzu kommt, dass Sprachwandel zwar in historischen Dimensionen beobachtbar ist, wir über die sozialen und psychologischen Dimensionen des Sprachgebrauchs in der Vergangenheit jedoch nur Hypothesen bilden können, da Sprachwandel ein langfristiges Phänomen ist, während individuelle sprachliche Handlungen kurzfristige Phänomene darstellen.
Unser Projekt zielt darauf ab, eine stark prädiktive Theorie des Sprachwandels zu entwickeln, indem wir einen neuartigen, hochgradig interdisziplinären Ansatz verfolgen, in dem sprachbezogene Einstellungen mithilfe soziolinguistischer und neurowissenschaftlicher Methoden erfasst werden. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass die Rolle sozialer und psychologischer Faktoren im kontaktinduzierten Sprachwandel zentral ist, und die Hypothese, dass unter diesen Faktoren insbesondere emotionale Einstellungen zur Sprache eine entscheidende Rolle spielen. Wir gehen davon aus, dass bewusste und nicht-bewusste emotionale Haltungen gegenüber sprachlichen Elementen Druck auf das Sprachsystem ausüben und so zu vorhersagbaren Sprachwandelprozessen führen.
Die zentrale Hypothese des Projekts wird anhand eines seltenen soziolinguistischen Phänomens getestet, das als linguistic conversion bezeichnet wird und sich derzeit in der Ukraine als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg vollzieht: Zweisprachige Sprecher:innen des Ukrainischen und Russischen sowie Personen, für die Russisch die primäre Sprache der Alltagskommunikation ist, geben Russisch vollständig auf und vollziehen einen kategorischen Wechsel zum Ukrainischen. Diese höchst ungewöhnliche soziolinguistische Konstellation bietet eine einzigartige Gelegenheit, die vorgeschlagene Theorie emotional gesteuerten Sprachwandels zu prüfen – gerade weil die beobachtbare Stärke der emotionalen Haltungen zur Sprache in diesem Fall eine Analyse der relevanten Prozesse in einer Detailtiefe erlaubt, wie sie bisher kaum zugänglich war.
Dieses stark interdisziplinär ausgerichtete Projekt ist am Institut für Psychologie angesiedelt und umfasst eine enge Zusammenarbeit mit dem Institut für Linguistik der Universität Graz. Im Projekt beschäftigte Dissertant:innen der Linguistik und Psychologie werden ihre Doktoratsforschung an einem der beiden Institute durchführen. Für interessierte Masterstudierende bietet das Projekt eine besondere Gelegenheit, sich an interdisziplinärer Forschung zu beteiligen, die psychologische, psycholinguistische, soziolinguistische und generativ-linguistische Methoden miteinander verbindet.