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Einige Leseproben

Kurzer Abschnitt aus dem Kapitel PSYCHOANALYSE VON KAFKAS TEXTEN ODER PSYCHOANALYSE IN KAFKAS TEXTEN? Aus: Hans H. Hiebel: Franz Kafka: Form und Bedeutung. Formanalysen und Interpretationen von ‚Vor dem Gesetz’, ‚Das Urteil‘,   ‚Bericht für eine Akademie’, ‚Ein Landarzt’, ‚Der Bau’, ‚Der Steuermann’, ‚Prometheus’, ‚Der Verschollene’, ‚Der Proceß’ und ausgewählten Aphorismen, Würzburg: Königshausen + Neumann 1999. Dieses Kapitel analysiert Kafkas Text „Der Steuermann“ und enthält methodologische Reflexionen über Möglichkeit und Grenzen psychoanalytischer Literaturbetrachtung. 
Möglichkeit, aber Grenze und Partialität der psychoanalytischen Interpretation 
Albert M. Reh hat eine unmittelbar einleuchtende, plausible psychoanalytische Interpretation eines Kafka-Textes gegeben: Er deutet die Kurzgeschichte ‘Der Steuermann’ und erkennt in den Figuren des “Fremden”, des “Steuermanns” und der “Mannschaft” die Repräsentanten oder Personifikationen von Über-Ich, Ich und Es.  Kafkas Text lautet: 
Der Steuermann 
“Bin ich nicht Steuermann?” rief ich. “Du?” fragte ein dunkler hochgewachsener Mann und strich sich mit der Hand über die Augen, als verscheuche er einen Traum. Ich war am Steuer gestanden in der dunklen Nacht, die schwachbrennende Laterne über meinem Kopf, und nun war dieser Mann gekommen und wollte mich beiseiteschieben. Und da ich nicht wich, setzte er mir den Fuß auf die Brust und trat mich langsam nieder, während ich noch immer an den Stäben des Steuerrades hing und beim Niederfallen es ganz umriß. Da aber faßte es der Mann, brachte es in Ordnung, mich aber stieß er weg. Doch ich besann mich bald, lief zu der Luke, die in den Mannschaftsraum führte und rief: “Mannschaft! Kameraden! Kommt schnell! Ein Fremder hat mich vom Steuer vertrieben!” Langsam kamen sie, stiegen auf aus der Schiffstreppe, schwankende müde mächtige Gestalten. “Bin ich der Steuermann?” fragte ich. Sie nickten, aber Blicke hatten sie nur für den Fremden, im Halbkreis standen sie um ihn herum und, als er befehlend zu mir sagte: “Stört mich nicht”, sammelten sie sich, nickten mir zu und zogen wieder die Schiffstreppe hinab. Was ist das für ein Volk! Denken sie auch oder schlurfen sie nur sinnlos über die Erde? (ER 319 f.) 
Albert M. Reh macht in seiner Interpretation deutlich, daß die psychoanalytische Interpretation dort und nur dort sinnvoll ist, wo ein literarischer Text als “Mimesis der Wirklichkeit des Unbewußten”, wie es Freud beschrieben hat, verstanden werden kann, d. h. als Projektion der “inneren Welt” eines Dichters, als “Darstellung eines traumhaften inner[e]n Lebens”, wie Kafka selbst einmal formulierte. Reh geht davon aus, daß in ‘Der Steuermann’ die genannte Voraussetzung gegeben ist; er sieht in ‘Der Steuermann’ einen traumähnlichen - also Unbewußtes verkörpernden - Text; dieser Text sei zwar nicht “als Traum” zu deuten und mißzuverstehen, sei aber doch in der Weise, “wie man einen Traum” verstehen würde zu interpretieren. 
In methodischer Hinsicht ist relevant, daß Reh sich 1) die intentio operis zum Gegenstand der Analyse macht, 2) den Gesamttext und nicht Träume, Fehlleistungen und Verhaltensweiseneinzelner literarischer Figuren interpretiert und 3) auch nicht auf eine Psychographie oder gar Pathographie des Autors im Sinne der intentio lectoris (bzw. der Psychologie als “Methode”) abhebt.
Im “Fremden” erkennt Reh die Instanz des Über-Ichs, dessen Funktion es sei, zu drohen, zu richten, zu strafen, zu verfolgen, zu erniedrigen usw. Das schwache “Ich” – verkörpert im Steuermann - gebe nach. “Bei dieser in seiner ‘Grausamkeit’ für das Über-Ich typischen ‘Machtübernahme’ entsteht durch das Umreißen des Steuers einen Augenblick lang die Situation völliger Orientierungslosigkeit.” Das Über-Ich aber erfasse die Situation und mache sich auch noch die Mannschaft, die “Kräfte des Es , untertan. Freuds topologisches Modell erscheint also nach Reh in Kafkas Text wieder. 
Über das Individualpsychologische hinausgehend und auf Freuds Massenpsychologie rekurrierend, deutet Reh den Fremden tentativ als “politische Verkörperung des Über-Ichs” und Bild eines autoritären politischen “Führers”, die Verdrängung des Steuermanns als eine “Vision der ‘Machtübernahme’ durch das politische Über-Ich”. Diese Interpretation ist erhellend, insofern nicht nur ein Bezug zur (psychischen) Innenwelt, sondern auch zur (sozialen) Außenwelt gesucht wird: Man kann mit einigem Recht in der Mannschaft, dem Steuermann und dem Fremden auch das Volk, die legitime Staatsregierung und einen Usurpator bzw. Diktator sehen. 
Aber nimmt der Leser, wenn er nicht vorab entschlossen ist, psychologisch zu interpretieren, den Text nicht sogar an erster Stelle als soziale Parabel bzw. Hyperbel wahr? Kafkas Text beginnt mit der Frage “Bin ich nicht Steuermann?” Der Fragesatz mit seiner scheinbar überflüssigen Negation (“nicht”) verrät Unsicherheit. Man kann nicht umhin, den Versuch des Steuermanns, sich seiner selbst durch die andern zu versichern, als Schwäche zu sehen. (Nicht in seiner beruflichen Funktion, sondern in seiner sozialen Stellung will er offenbar anerkannt sein.) Und tatsächlich wird der Steuermann sogleich durch einen Rivalen verdrängt: Als sehr sattelfest hat er sich nicht erwiesen. Die zu Hilfe gerufenen Matrosen nicken der erneuten Frage “Bin ich der Steuermann?” zwar zu, aber Blicke haben sie “nur für den Fremden”. Die Matrosen geben zwar dem Steuermann recht, aber Gehorsam erweisen sie nicht ihm, sondern dem Fremden! Die Unsicherheit des Steuermanns wird zur selffullfilling prophecy. 
Das Erzählte verliert sukzessive seine Eigentlichkeit bzw. Wörtlichkeit, es gerät zum symbolischen Sinnbild, d. h., es fungiert a) als Parabel, die metaphorisch auf politische Phänomene weist, und b) als exemplum oder Beispiel, das auf ähnliche Fälle von Unterwerfungsbereitschaft bzw. Usurpation weist, bzw. als pars pro toto, das auf das Ganze der Gesellschaft deutet, und schließlich c) als Allegorie innerer Vorgänge bzw. als Psychomachie. Daher bestünde ein textadäquates Interpretieren darin, den verschiedenen Assoziationen in ihrer Verflechtung und Wechselwirkung sukzessiv nachzugehen - und den psychologischen Momenten ausschließlich die (transitorische) Bedeutung zuzugestehen, die sie im Rahmen des ganzen Beziehungsgeflechts und spielerischen Vexierbildes haben. 
 a) Parabel 
 Wir haben offenbar eine Art parabolischer Darstellung der Hobbes’schen Staatstheorie vor uns: “auctoritas, non veritas facit legem” - Autorität, nicht Wahrheit begründet das Gesetz, oder anders: Die Macht, nicht das Recht schafft das Gesetz. Der Mächtige verdrängt den legitim gewählten oder durch Tradition bestätigten - aber doch schwachen - Herrscher. Die Macht setzt aus sich selbst, was Gesetz heißt, sie setzt sich selbst als das Gesetz (“Was der Adel tut, ist Gesetz.” “Das [...] Gesetz [...] ist der Adel” - heißt es bei Kafka an anderer Stelle [314 ff.]). Dies geschieht ohne Begründung, ohne Konsens, ohne allgemeine Zustimmung - d. h. ohne legitimierende Verfahren. Schiff, Steuermann, Fremder und Mannschaft wären hier eindeutig sinnbildlich zu nehmen, d. h. metaphorisch zu verstehen und auf den Topos vom Staatsschiff zu beziehen. 
b) Exempel 
Man kann auch davon ausgehen, daß hier eine Art exemplum bzw. ein pars pro toto vorliegt, d. h., man muß das Schiff nicht auf das Staatsschiff beziehen, die Usurpation nicht auf den Herrscher oder die Regierung. Man kann auch annehmen, daß hier ein Sinnbild für sozialdarwinistisches Verhalten vorliegt, konkret: ein Bild vom Verhältnis einer selbstbewußten, starken, autoritären Persönlichkeit zu einer unsicheren, sich auf andere verlassenden, schwachen Person sowie zur gehorsamsbereiten, autoritätsfixierten Menge der Mitmenschen: Nicht die Staatsgeschäfte, andere Geschäfte - Leitungsfunktionen irgendwelcher Art - werden hier vom Fremden, weil er der Stärkere und Selbstbewußtere ist, übernommen. 
Allerdings: ein eindeutiges exemplum oder Sinnbild scheint sich nicht auszubilden, eine unzweideutige Parabel, in der Bild und Begriff klar aufeinander verwiesen, scheint sich nicht zu fixieren. Die parabolischen Momente (der fortgeführten Metapher) und die sinnbildlichen Momente (des demonstrativen exemplums) verlieren nämlich ihre Bestimmtheit durch den Traumcharakter des Ganzen, der sich z. B. zeigt, wenn der aus dem Nichts mitten auf dem Meer hervortretende Fremde den Erzähler mit “Du” anredet, ihm in unrealistisch-surrealer Weise “den Fuß auf die Brust” setzt und ihn “langsam nieder[tritt]”, oder wenn die Matrosen nach dem Erscheinen des gänzlich unbekannten Fremden gehorsam die Treppe hinabschlurfen. 
c) Allegorie innerer Vorgänge 
Das Phantastisch-Surreale in der Form des Traumhaften, typisch für Kafka, impliziert aber auch Indizien eines allegorischen Sinnes, d. h. Indizien einer - nur angedeuteten - Personifikation intrapsychischer Imagines bzw. Indizien einer Art “Psychomachie”. Eben der Traumcharakter des Textes läßt uns an eine “innere Welt” denken, nicht nur an eine äußere, soziale, politische. Tatsächlich stellt der “Steuermann” die Imago eines schwachen Ich dar, der “Fremde” die eines gefürchteten und zugleich idealisierten Rivalen, eines stärkeren, überlegenen, dominanten – in diesem Kontext vor allem an die Vater-Instanz erinnernden - Rivalen. Da das “Steuern” (auf dem Meer!) nur eine Metapher für irgendeine leitende Tätigkeit darstellt und das Ich des Textes wohl nicht absolut unfähig zu einer solchen Tätigkeit ist, müssen wir annehmen, daß der Traum-Text sozusagen eine Regression darstellt - vergleichbar den Prüfungsträumen, die uns in die Kindheit zurückversetzen, oder vergleichbar dem “Schwimmer”, der eigentlich “schwimmen kann”, aber wegen seines Erinnerungsvermögens wiederum “nicht schwimmen” kann. (H 332) Diese Regression führt sozusagen bis zur ödipalen Szene des Kampfes zwischen Vater und Sohn zurück, bis zu einer Entscheidungs- und Ursprungsszene. 
Kafkas Allegorese inszeniert in gewissem Sinn auch diese “Urszene”, d. h. die Machtübernahme nach dem Ödipus-Modell, in welcher der Vater - als Vertreter des “Realitätsprinzips” - den Sohn ‘entmachtet’ im Akt der “symbolischen Kastration”. Aber bekanntlich wird der strafende Vater verinnerlicht und bildet schließlich das Über-Ich; Freud nennt es den “Repräsentanten der realen Außenwelt”. Der äußere Gegner wird zum inneren Gegner. 
Der “Fremde”, stellt also in allegorischer Weise den “symbolischen Vater” dar, aber zugleich auch das Über-Ich (also die bereits verinnerlichte Vater-Imago). Es liegt demnach eine Bild-Verdichtung vor; sie beinhaltet das Bild einer Genese, eines Ursprungs, einer “Urszene”, ein Bild der Entmachtung bzw. ‘Entmannung’ - und ein Bild einer späteren Machtübernahme, einer Usurpation des Ich durch das Über-Ich. Das Ich und die Triebimpulse (Mannschaft und Steuermann) erweisen sich als ohnmächtig und erliegen dem Über-Ich, das fortan die Steuerung des Gesamt-Subjekts übernimmt. Das Bild einer Urszene und das Bild einer späteren inneren Entmachtung (die natürlich nichts anderes darstellt als eine “Wiederholung” des Urszene) fallen zusammen. (Und die beiden Bilder fallen letztlich auch mit dem Bild einer realen Entmachtung – verursacht durch Ichschwäche, also der inneren Gewalt des Über-Ichs, das auf einen äußeren Rivalen projiziert wird - zusammen.) 
Aus Ich und Vater werden Ego und Über-Ich: Kafkas Bild ist natürlich paradox, da der Fremde zunächst als äußere Gestalt erscheint und schließlich als innere, sozusagen im Steuermann selbst wohnende. Ist der “Fremde” intrapsychische Imago, dann kann er nicht zugleich eine gefürchtete äußere Machtinstanz darstellen; wird die Genese der Ohnmacht gezeigt, dann darf der Steuermann nicht schon von vornherein unsicher und schwach sein - usw. Die eine Lesart kollidiert mit der anderen, so daß Widersprüche bzw. Paradoxien entstehen. Sie sind das Zeichen der polysemischen Allegorese, der “gleitenden Metaphern” Kafkas. Dargestellt wird die Außenwelt der Innenwelt der Außenwelt ... (Man erinnere sich der paradoxen Zeichnungen Eschers: Interieurs erscheinen zugleich als Exterieurs; eine Hand zeichnet eine Hand, die jene erste Hand zeichnet; das Innere eines Möbius-Bandes erscheint plötzlich als Äußeres ...) 
Neben die Parabel oder Hyperbel der sozialen oder politischen Gewalt hat sich die Allegorese (oder Psychomachie) innerer Kämpfe gestellt. Diese innere Welt verweist aber wieder auf die äußere: 1) Auf den Ursprung des Machtgefälles zwischen Ich und Über-Ich in der “Urszene” der ‚Entmachtung‘. 2) Zweitens auf die “Wiederholung” der “Urszene” durch Projektion: Das geschwächte Ich ist anfällig für Machtansprüche von Rivalen oder Vater- und Autoritäts-Figuren der äußeren Wirklichkeit. An diesem Punkt aber verknotet sich die Allegorese bzw. Psychomachie erneut mit der Parabel bzw. Hyperbel (über das Verhältnis vom Schwachen zum Mächtigen) - die Wiederholung der Urszene (Allegorese) fällt mit einer Entmündigungsszene (Parabel, Hyperpel) zusammen. 
Kafka hat ein ambivalentes Gebilde errichtet, eine Art Doppel-Metapher. Diese Doppel-Metapher weist auf Externes wie Internes - ja, sie weist auf ein logisches Verhältnis zwischen Externem und Internem, auf eine Wechselbeziehung. Kafkas vieldeutige Metaphorik von der Form eines “Zirkels von Innen und Außen” zeigt ein Zweifaches: a) Die Urszene bzw. die Genese der Ohnmacht - mit der Etablierung des Über-Ichs im Subjekt (“Das Ich ist ja nichts anderes als ein Käfig der Vergangenheit” [J21 87]) - und: b) die spätere Wirksamkeit dieser Ohnmacht (wenn der Stärkere, der “Fremde”, auftritt und den Schwachen verdrängt) auf der Basis der Projektion bzw. der “Wiederholung” bzw. der “Wiederkehr des Verdrängten”. Die eine Lesart setzt die andere nicht außer Kraft; im Gegenteil: die Doppelheit von psychologischer Allegorie (ödipaler Szene, Internalisierung der externen Macht, Wiederholung der Urszene, Projektion) und sozialpsychologischer Hyperbel oder Parabel (der Unsichere läßt sich durch den Starken einschüchtern, entmündigen, verdrängen auf der Basis von Ich-Schwäche, Projektion und Wiederholungszwang) thematisiert implizit ein dialektisches Verhältnis.


Ein Abschnitt (zu Jacques Lacans Psychoanalyse) aus Hans H. Hiebel: Strukturale Psychoanalyse und Literatur (Jacques Lacan). In: Klaus-Michael Bodal (Hg.), Neue Literaturtheorien. Eine Einführung, Opladen: Westdeutscher Verlag 1990, S. 56-81; 2. Aufl. 1997, S. 57-83. Auch in: Franz Kafka: Form und Bedeutung.
Jacques Lacan und die Literatur
“d’a letter à a litter, 
d’une lettre (je traduis) 
 à une ordure”
1. Struktural-poststrukturale Psychoanalyse
Bei Jacques Lacan scheint die Form, das Sprachspiel, den Inhalt, die Psychoanalyse, in den Schatten zu stellen, vielleicht deshalb, weil für den Praktiker wie den Theoretiker Lacan das “énoncé” (das Ausgesagte) hinter die “énonciation” (den Aussagevorgang) zurücktritt: Der Versprecher verrät die Wahrheit (“la verité”), das bewußt Ausgesagte gehört nur dem Bereich des Wissens (“le savoir”) zu. - Wie dem auch sei, Jacques Lacan hat sich zeitlebens schlicht als Interpret der Schriften Freuds verstanden. Gleichwohl ergeben sich Unterschiede, vor allem im Hinblick auf die Linguistisierung bzw. Strukturalisierung der Psychoanalyse wie auch im Hinblick auf die Einbeziehung der Psychose ins Feld der Analyse. Auch die Skepsis gegenüber der Möglichkeit, Störungen - die ihre Bedingung in einem strukturalen Gefüge haben - durch Erkenntnis beheben zu können, wäre aus der Zahl der Abweichungen hervorzuheben. Das Freudsche Postulat: “Wo es war, soll ich werden” wird von Lacan skeptisch umgedeutet.
Mit Lacan wird die Psychoanalyse in eine strukturale und - im gleichen Moment - in eine “poststrukturale” (oder: neo- bzw. spätstrukturale) Disziplin transformiert. Lacan stellt, von Saussure ausgehend, die Sprache ins Zentrum seiner Psychoanalyse, definiert den Menschen als das sprechende, symbolbildende Tier und erklärt: “das Unbewußte ist strukturiert wie eine Sprache”Lacan liest Freuds Werk quasi als semiotisches System. Aber er trennt nicht nur - in strukturaler Weise, wie Saussure - die traditionelle Bindung von Symbol und gemeintem Referenten, er trennt - “poststrukturalistisch” - auch Signifikant (Zeichenkörper) und Signifikat (Vorstellungsschema): “If structuralism divided the sign from the referent [...], ‘post-structuralism’ [...] divides the signifier from the signified”.
2. Das Begehren 
Lacan, der sich von 1938 an (mit dem Artikel ‘La Famille’) um die strukturale Rekonstruktion der Freudschen Theorie bemüht, erhebt den “Wunsch” explizit zum Zentrum der seelischen Logik und gibt ihm den Namen “Begehren” (désir); er läßt das Begehren, das durch seine Beziehung zur Phantasie definiert ist, jener Kluft zwischen “Bedürfnis” (besoin) und “Verlangen” bzw. “Bitte” (demande) entspringen, die sich  im Prozeß der fruchtbaren und zugleich furchtbaren Separation eröffnet, welche über das narzißtische Spiegelstadium von der dyadischen Mutter-Kind-Totalität zum Ödipus-Komplex als dem Ende der Geburt führt: Indem das Subjekt durch den “Dritten”, der die duale Beziehung oder Dyade in Frage stellt, - d.h. durch den Vater - in die Ordnung der Familie - die symbolische (sprachliche) Ordnung überhaupt - eingeführt wird, sieht sich die Erfüllung des “Bedürfnisses” fortan auf die Formulierung des “Verlangens” (“demande”) verwiesen und können Ich und Anderer nurmehr durch den Engpaß der Sprache zueinander finden Mit der Sprache wird zugleich das Unbewußte geboren. 
Der Eintritt in die sprachliche Ordnung - und somit die soziale Welt - ist der Einschnitt, der den nostalgischen Wunsch, das Begehren, allererst provoziert; das Begehren ist “weder Appetit auf Befriedigung, noch Anspruch auf Liebe, sondern vielmehr die Differenz, die entsteht aus der Substraktion [sic] des ersten vom zweiten, ja das Phänomen ihrer Spaltung selbst”. Das Begehren, der Wunsch (die nicht-reale, quasi halluzinatorische Wunscherfüllung, die das Unbewußte und seine “Primärprozesse” bestimmt - im Gegensatz zu den “Sekundärprozessen” des “Realitätsprinzips” sind sie dem “Lustprinzip” zuzurechnen) stellen sich nun erst der Realität entgegen in den Träumen, den Fehlleistungen und Symptomen, regieren als “Sprache des Anderen” (“l’inconscient, c’est le discours de l’Autre”), was sich dem Zugriff des Ich bzw. des Cogito entzieht. (Vgl. die Art. ‘Wunsch’, ‘Wunscherfüllung’, ‘Lustprinzip’, ‘Realitätsprinzip’ bei Laplanche/ Pontalis). Der Begriff des Wunsches oder Begehrens trennt demnach in radikaler Weise einen soziologischen Diskurs, der sich - wie der Marxsche - um die Begriffe des “Bedürfnisses” (und des “Verlangens” als der Dimension sozialer Interaktion) zentriert, von einem genuin psychoanalytischen. 
  
3. Das Spiegelstadium und das Imaginäre 
Den Begriffen Bedürfnis, Anspruch und Begehren entspricht in gewissem Sinn die Trias von “Realem”, “Imaginärem” und “Symbolischem”. Das Reale als das Materiell-Naturhafte tritt uns nur als die durch das Symbolische strukturierte Wirklichkeit entgegen; innerhalb der symbolischen Ordnung (der Sprachbeziehung als Grund von Intersubjektivität) aber etabliert sich das Feld des Imaginären: der Spiegelungen, Projektionen und Phantasmen (in Bildern und Worten). Es hat seinen Ursprung im sogenannten “Spiegelstadium”, in welchem das Infans (im Alter von 6-8 Monaten) sich im Spiegel oder in einem andern Kind (vornehmlich einem ihm ähnlichen, “le semblable”) zu erkennen meint und fortan sein Ich (“moi”) - in einem Akt der Entfremdung und Verkennung - nach diesem Bilde des anderen formt. Zerstückeltsein, Fragmentarisiertsein - die Erfahrung des “corps morcelé” - haben bis zu diesem Zeitpunkt die Selbstwahrnehmung des Infans charakterisiert, jetzt wird ihm - zusammen mit der Idee der Koordinierbarkeit seiner bislang unkontrollierten Bewegungen - das (illusionäre) Bild einer Einheit seiner selbst vorge”spiegelt”: Unser Ich ist demnach modelliert nach der Imago des anderen, ist “imaginär”; das Ich ist ein anderer. Imaginäre Identifikationen, Vermengungen von Ich und anderem, Projektionen usw. sind das Zeichen dafür, das sich ein selbständiges Ich noch nicht ausgebildet hat. Und auf dergleichen imaginäre Vorstellungen fällt das Subjekt und besonders derjenige, dessen Einführung in die “symbolische Ordnung” mittels der ödipalen Ereignisse nicht glückt, immer wieder zurück; im Falle der Psychose führt die Regression zurück bis auf die Vorstellung vom zerstückelten Körper. 
Die duale Beziehung zwischen Ich und anderem (“l’autre”, “objet petit a”) wird - im Verlauf des ödipalen Dramas - durchbrochen durch den Dritten: den Anderen (“l’ Autre”, “le grand Autre”) . Der Vater als symbolischer - d.h. als differenzielles Element eines strukturalen Komplexes bzw. als Repräsentant der Ordnung der Familie, des Inzesttabus, der symbolischen Ordnung - führt zur Separation von Mutter und Kind; dieser “symbolische Vater” fungiert schlicht als Name, als “Name-des-Vaters” (genitivus subiectivus!), als genealogisches Zeichen der Barriere zwischen den Generationen und den Geschlechtern; es geht um einen “puren Signifikanten”. “Verbotene Sexualobjekte” kann es nicht geben, “ohne daß es genealogische Rede und d.h. Sprache” gibt. (Die Divergenz von “symbolischem” und “realem” Vater - letzterer ist “stets irgendwie mangelnd, abwesend, erniedrigt, gespalten oder unecht - führt Lacan zufolge gerade im Zeitalter des “Verfall[s] der Vaterimago” zu Pathologien.) - Der Name oder das Nein des Vaters (“Nom/Non du Père”), die das Inzesttabu als primäres Gesetz verkünden, durchschneiden die Mutter-Kind-Dyade und ermöglichen durch diesen Schnitt der “symbolischen Kastration” dem In-fans (wörtlich: dem Nicht-Sprechenden) den Zugang zur symbolischen Ordnung und damit zur Selbständigkeit des Ich (“je”). Der “Name-des-Vaters”, ein Sprachzeichen bzw. Signifikant, ist der (Para-) Graph des Gesetzes, der den Eintritt in das Gesetz bzw. die Sprache vor-schreibt, denn Sprache und Gesetz sind eins; aber mit dem Eintritt in die Sprache (und ihre symbolische Ordnung) ist auch schon das Unbewußte gesetzt, denn dieser Eintritt bedeutet zugleich den Ausgang aus dem ‘Paradies’ der Symbiose und damit jene Urverdrängung, die das Subjekt spaltet (oder durchstreicht: “sujet barré”). Das vom anderen (“l’autre”) abgespaltene Subjekt ist fortan ein Ich, das durch einen Mangel charakterisiert ist: den Verlust der imaginären Einheit mit der Mutter. Es muß das Begehren nach der verlorenen Einheit verdrängen, oder umgekehrt: die Verdrängung generiert dieses Begehren: “ich denke, wo ich nicht bin, also bin ich, wo ich nicht denke”. 
  
4. Der Phallus 
Die imaginäre ‘Symbiose’ zerbricht indessen auch dann, wenn das Kind erkennt, daß die Mutter auch noch ein anderes Begehren als das nach dem Kinde hegt: das nach dem Dritten. Nur ist dieser Anhaltspunkt nur die Kehrseite des “Namens-des-Vaters” bzw. des “Phallus”, der seinerseits nichts anderes darstellt als das Zeichen der Kopula(tion), von der sich das Kind nun ausgeschlossen weiß. Der “Phallus” wird zum (imaginären) Zeichen dessen, was das Kind sein oder haben müßte, um sich das Paradies weiterhin sichern zu können; er ist Symbol eines imaginierten Zauberschlüssels zur Einheit und Ganzheit, er hat nichts (nichts Essentielles) mit dem biologischen Geschlechtsunterschied zu tun. Damit ist auch der Gegensatz von Phallus-Haben und Kastriert-Sein ein rein symbolischer und kann auf beide (!) biologischen Geschlechter bezogen werden. “Zu haben ist der Phallus, Symbol des Seins, auch für das männliche Kind nicht.” 
Bei diesem anti-biologistischen Symbolismus setzt der lacanistische Feminismus ein - auch Roland Barthes’ strukturale Analyse der Balzacschen Erzählung ‘Sarrasine’ hat hier einen ihrer Ankerpunkte. 
So ergibt sich, daß im Diskurs, vornehmlich im analytischen, zwei Relationen, die imaginäre und die symbolische, zu betrachten sind, wobei die imaginäre vom “Objekt klein a” (“a”/”l’autre”) zum Ich (“moi”, “a”) führt, und eine andere Relation kreuzt, nämlich den Diskurs des Anderen (Unbewußten), der von der Position des Anderen (“A”/ “l’Autre”) zum Subjekt (“S” bzw. “S” durchgestrichen) weist. (Vgl. das “Schema L” ) 
  
5. Metapher und Metonymie 
Da das Unbewußte strukturiert ist wie eine Sprache, konstituiert sich der Diskurs des Anderen aus materiellen Signifikanten; nur können diese für alles stehen außer für das, was sie sagen: man bedient sich der Sprache, “pour signifier tout autre chose que ce qu’elle dit”. Das gilt a fortiori für den Diskurs des Unbewußten. Auch sind die Signifikanten letztlich abgekoppelt von einem Signifikat (dem verlorenen Objekt “a” bzw. dem imaginären “Phallus”, der dieses Objekt substituiert). Im Aufsatz ‘Das Drängen des Buchstabens’geht Lacan daher von der Vorstellung aus, daß “das Signifizierte unaufhörlich unter dem Signifikanten gleitet”.
Es ist der Schnitt zwischen Signifikant und Signifikat, der das “poststrukturalistische” Moment an Lacan indiziert und die Verwandtschaft mit Derridas Konzept der “différance” des unaufhebbaren Aufschubs, markiert (es geht um den mit Differenzierungen/ différences verbundenen aufschiebenden/ différant Aufschub: den Aufschub der Unmittelbarkeit, von dem G. F. W. Hegel ausging, bzw. dem Aufschub unmittelbarer Verausgabung, von dem Georges Bataille sprach, bzw. den Triebaufschub, der den zentralen Ankerpunkt Freuds darstellt).
Saussure hatte deutlich gemacht, daß es keinen für sich bestehenden Signifikanten gibt, daß jeder “Signifikant” die Spur aller anderen in sich trage, “Differenzen” zu allen anderen Signifikanten eines gegebenen “Wert”- bzw. Bezugs-Systems in sich vereine. Erst der jeweilige Kontext weise dem (arbiträren) Signifikanten ein Signifikat zu. Diese Lockerung des Bandes zwischen Signifikant und Signifikat radikalisieren Lacan und der gesamte Spätstrukturalismus: “Der Referenzwert wird abgeschafft und übrig bleibt allein der strukturale Wertzusammenhang.”
Lacan dreht Saussures Formel s/S (Signifikat/Signifikant) um und privilegiert den Signifikanten S/(s), wobei er das “s” einklammert, um sein Verschwinden im Unbewußten anzudeuten. Auf dieses “(s)”, das mit dem verlorenen Objekt (“klein a”) bzw. dem imaginären “Phallus” (nicht gleichzusetzen einem biologischen Geschlechtsmerkmal!) in Beziehung steht, weisen in der “Rhetorik” des Unbewußten - neben Ellipse, Hyperbaton, Katachrese usw. - vor allem Metapher und Metonymie. 
Deren Semiotik wird mit Freuds “Verschiebung” (bewerkstelligt durch eine metonymische Kontiguitätsrelation) und “Verdichtung” (produziert auf Grund einer - von Lacan “metaphorisch” genannten - Überlagerung von Signifikanten) in Verbindung gebracht. Im Traum ist bekanntlich jede feste Zuordnung von Zeichenkörper und Bedeutetem, von Signifikant und Signifikat aufgelöst. Ein Pferd kann - metaphorisch - für den leiblichen Vater stehen (vgl. Freuds Fallbeschreibung des “kleinen Hans”); eine “Bahre” kann, obgleich dies widersinnig scheint, auf metonymischem Weg für das Begehren nach einer bestimmten Person stehen, nur weil der Zufall einmal beides miteinander verband. Ein Traum-Wort wie “Propylen” kann (metaphorisch) auf einen nach Amyl(en) riechenden Likör weisen - oder (metonymisch) auf einen Freund, den man in der Nähe der Münchner Propyläen getroffen hatte.
Lacan geht in seiner Definition von Metapher und Metonymie mit R. Jakobson auf die zwei Grundfunktionen der Sprache zurück, die paradigmatische bzw. selektive, die er in Beziehung zur Metapher (und zur “Verdichtung”) setzt, und die syntagmatische bzw. kombinatorische, die er mit der Metonymie (und der “Verschiebung”) in Verbindung bringt. 
Die Metonomie sei getragen “von dem Wort für Wort” (“mot à mot”) einer Verknüpfung (von Segel und Schiff z.B.); an anderen Stellen scheint Lacan eher an die generelle syntagmatische Funktion der Kombination der Sprachelemente zu denken als an den fest umrissenen Tropus der Metonymie. - “Ein Wort für ein anderes” (“Un mot pour un autre”) ist die Formel für die Metapher. “Der schöpferische Funke der Metapher entspringt nicht der Vergegenwärtigung zweier Bilder, das heißt zweier gleicherweise aktualisierter Signifikanten. Er entspringt zwischen zwei Signifikanten, deren einer sich dem andern substituiert hat, indem er dessen Stelle in der signifikanten Kette einnahm, wobei der verdeckte Signifikant gegenwärtig bleibt durch seine (metonymische) Verknüpfung mit dem Rest der Kette.” Im Unbewußten ist das Feld der Metapher die “Verdichtung”, das der Metonymie die “Verschiebung” (als Mittel der Umgehung der Zensur). 
Nun scheint die Metapher als Überlagerung bzw. Signifikanten-Ersatz offenbar auch die Metonymie im engeren Sinne, den fest umrissenen Tropus der Metonymie, einzuschließen, d. h. jenen Signifikanten-Ersatz, der nicht auf einer Similaritäts-, sondern auf einer Kontiguitäts-Relation basiert (“Propylen” für den über die Brücke “Propyläen” angesprochenen Freund Sigmund Freuds, Wilhelm Fließ, und  ein mit Fließ  assoziertes Sexualhormon); auch wird der metaphorische Ersatz oft, wenn ich Lacan richtig verstehe, als verschleiernde “Verschiebung” oder doch zumindest als “Entstellung” und “Maskierung” begriffen; umgekehrt führt das metonymische “mot à mot” häufig zu metaphorischen Ersatzbildungen.
Nun ist allerdings von Wichtigkeit, daß für Lacan nicht nur der Traum, das Symptom und die Fehlleistung Ausdrucksformen unbewußter Bedeutungen sind, sondern daß dies ausnahmslos fürjede menschliche Artikulation gilt; und da die poetische hier nicht auszunehmen ist, gilt für viele sich an Lacan orientierende Literaturinterpreten der struktural-psychoanalytische Ansatz nicht als fachfremd und einseitig, sondern als universell und notwendig; diese Interpreten versuchen allerdings auch nicht, Kausalerklärungen zu geben und psychogenetische Pathographien zu erstellen, sondern setzen sich das Ziel, das verborgene Gesetz eines gegebenen Zeichen-Gefüges und seine unbewußten Motive und Ziele zu eruieren. Der hier angesprochene psychologische Universalismus Lacans ist - neben bestimmten Konzepten Jacques Derridas und Michel Foucaults - vermutlich der Grund dafür, daß der Terminus “Diskurs” Mode wurde bzw. daß auf der Basis dieses “Diskurs”-Begriffs die Differenz zwischen diskursiven Texten und poetisch-geformten, nicht auf Diskursives reduzierbaren literarischen Texten eingeebnet bzw. ignoriert wurde. 
  
6. Poe:’Der entwendete Brief’ 
Im Artikel ‘Lituraterre’ bestimmt Lacan die Literatur als “Letteratur”, als Buchstaben- bzw. Signifikanten-Kunst, als Brief-Stellerei (“letter” bzw. “lettre” heißt “Buchstabe” und “Brief”), d.h. als Zeichen-Botschaft mit Ausradierungen, Auslassungen, Anspielungen, Metonmyien und Metaphern, - als doppelten (bewußt-unbewußten) Diskurs, dessen Signifikanten nicht zuletzt wieder auf das verlorene “Objekt klein a” bzw. den “Phallus” als Zeichen des fundamentalen Seins-Mangels weisen. An einem letter (lettre) - im Sinne von Literatur/’Letteratur’ - , der von einem zirkulierenden letter (lettre), nämlich von einem “purloined letter” (einer “lettre volée”, einem “entwendeten Brief”) handelt, vermag Lacan seine Theorie der Letter – des “Briefes”, des “Buchstabens” bzw. “Signifikanten” - wie an keinem andern Beispiel zu illustrieren.Gemeint ist Lacans Seminar zu Edgar Allan Poes “The Purloined Letter”. Die Literaturexegese und die “Allegorie der Psychoanalyse” gehen hier Hand in Hand: Eine Person, nach Lacan die Königin, muß zusehen, wie ihr ein sie kompromittierender Brief, von welchem der König nichts wissen darf, vom Minister D-- entwendet wird. Diese Konstellation wiederholt sich, als der Detektiv Dupin dem Minister den offen daliegenden - und insofern verdeckten, von niemand erkannten - Brief stibitzt und - wie der Minister - eine Art Faksimile hinterlegt. Der Brief als Buchstabe oder der Buchstabe als Brief - Signifikant des Begehrens als des Begehrens des Anderen - erhält seine (für das Unbewußte relevante) Bedeutung nur durch das Begehren des Anderen. Das Begehren (“désir”), entsprungen dem Mangel, imaginiert sich das Zeichen einer Allmacht, das Szepter, in der Hand des Andern. Dem jeweiligen Besitzer ist der Brief/letter/Buchstabe Machtmittel und zugleich Gefahr; er allegorisiert Phallus und Kastration, ja er ist das eine wie das andere. Sein Zirkulieren symbolisiert das unentwegte Changieren von Phallus und Kastration: Der Signifikant wird, da er “Symbol einer Abwesenheit ist”, eines Mangels, “dort, wo er ist, wohin er auch immer ginge, sein und nicht sein”. Er kann nicht entwendet (behalten) werden, sondern nur umgeleitet (“purloined”) werden, muß indessen immer seinen Bestimmungsort erreichen. 
Derrida hat dieses Zirkulieren zu einem endlosen Aufschub (“différance”), in dem es keinen zentralen Ankerpunkt gebe, radikalisiert und Lacans Poe-Interpretation Phallo- und Logozentrismus bzw. “phallogocentrisme” vorgeworfen. Barbara Johnson wiederum spielte den Detektiv Dupin, der Lacan und auch Derrida - quelle “autruicherie”! - die Straußenfedern “aus dem Hintern” rupft. - Die feministische Literaturtheorie beruft sich sehr häufig auf den Phallo(go)zentrismus-Vorwurf und den “différance”-Begriff, um das weibliche Schreiben zu definieren oder zu konstituieren: als “semiotisches”, das in der “chora” durch reine Rhythmen dem Symbolischen, so die Behauptung, opponiere (Julia Kristeva) bzw. als differenziell-bisexuelles, das angeblich die binäre Logik des patriarchalisch-männlichen Denkens unterminiere (Hélène Cixous). Andererseits ist aber auch Lacans antibio-logistische, symbolische Bestimmung der Geschlechter (des “Phallus”) sowie seine Erörterung des trans-phallischen Lusterlebens der Frau - 1976 erschien eine deutsche Teilübersetzung aus ‘Encore’ im Kontext der Frauenbewegung - von Einfluß auf die feministische Theorie gewesen. Die nicht-diskursiven Elemente der Geformtheit, der sinnlich-materiellen Anschaulichkeit, der Musikalität, der Überstrukturiertheit, der verfremdenden Devianz usw. waren immer schon Bestandteil der Literatur, ja, sie sind Definiens und Kernsubstanz der Poesie.


brecht

Zwei Abschnitte aus dem Brecht-Kapitel im ersten Band der Lyrik-Studie: Hans H. Hiebel: Das Spektrum der modernen Poesie. Interpretationen deutschsprachiger Lyrik 1900-2000 im internationalen Kontext der Moderne. Teil I (1900-1945), Würzburg: Königshausen + Neumann 2005, 332 S. Teil II (1945-2000), Würzburg: Königshausen + Neumann 2006, 622 S. 

12    ·  Bertolt Brechts artistische engagierte Lyrik

         […].

 Ein programmatisches und für den marxistischen Brecht typisches Gedicht ist das folgende, ebenfalls in den Svendborger Gedichten abgedruckte: 

    BEI DEN HOCHGESTELLTEN (e: 1936, d: 1937)   Gilt das Reden vom Essen als niedrig. Das kommt: sie haben Schon gegessen.   Die Niedrigen müssen von der Erde gehen Ohne vom guten Fleisch Etwas gegessen zu haben.   Nachzudenken, woher sie kommen und Wohin sie gehen, sind sie An den schönen Abenden Zu erschöpft.   Die Gebirge und das große Meer Haben sie noch nicht gesehen Wenn ihre Zeit schon um ist.   Wenn die Niedrigen nicht An das Niedrige denken Kommen sie nicht hoch.   Das Gedicht ist 1936, in der Zeit der Arbeitslosigkeit und Armut, die auf die Weltwirtschaftskrise 1928 folgte, entstanden. Wie Beckett gegenüber den elabo­rierten Werken seiner literarischen ‚Väter’ Proust und Joyce eine gewisse ‚Ver­armung’ der Sprache anstrebte, ‚gewollte Armut’, so hat auch Brecht gegenüber dem main stream der Tradition, Thomas Mann, Rilke u. a., sich um maximale Simplizität bemüht. „Bei den Hochgestellten“ lautet Titel, der als Incipit auch den Beginn der ersten Strophe stellt; dieser umgangssprachliche Ausdruck ver­einfacht, was der Marxist Brecht im Auge hat: Nach Marx steht die „Klasse“ der „Kapitalbesitzer“ und Industriellen der Klasse, die nichts besitzt (außer ihre Ar­beitskraft), diametral gegenüber. Aber nicht nur auf die Kapital besitzende in­dustrielle Klasse ist der Titel gemünzt, sondern er zielt - auf Grund seiner größe­ren Reichweite - auf alle „Hochgestellten“, d. h. auch auf die im sogenannten „Überbau“ tätigen Privile­gierten wie Politiker, höhergestellte Vertreter der Kir­che, des Militärs oder der Rechtssprechung. Brechts Ausdruck folgt also durch­aus marxistischen Vorstellungen vom „Kapitalverhältnis“, aber ist mit seiner Abweichung vom sozialistischen Jargon undogmatisch, sogar ein wenig ketze­risch; Dogmatiker hätten Brecht als ‚Revisionisten’ bezeichnen können. Mit der Offenheit des Ausdrucks „Hochgestellte“ stellt es Brecht dem Rezipienten ge­wissermaßen frei, mitdenkend sämtliche bessergestellten Schichten bzw. Ver­treter einer herr­schenden oder zumindest privilegierten Klasse unter seine Be­zeichnung zu sub­sumieren. Das in der Etymologie des Wortes versteckte „hoch“ erweckt Brecht durch die später gebrauchte Bezeichnung „niedrig“ (bzw. „das Niedrige“) sozusa­gen zum Leben: „Animation“ (der Wortwurzel) nennt die Poetik diese Technik. So ergibt sich ein gewissermaßen wörtlich zu nehmender Gegensatz „hoch“ versus„niedrig“ (obgleich die Ausdrücke „[Die] Hochge­stellten“ und „Die Niedrigen“ natürlich auch in ihrer nicht-wörtlichen Bedeu­tung realisiert werden müssen). Der Gegensatz „hoch-niedrig“ wird auch in einer zentralen Metapher der Heiligen Johanna der Schlachthöfe fruchtbar gemacht, die vom Bild einer „Schaukel“ ausgeht. Diese Metapher zeigt, daß Oben und Un­ten, „hoch“ und „niedrig“ einander mit logischer Notwendigkeit ausschließen. Auch wenn wir das Morphem „hoch“ in „Bei den Hochgestellten“ wörtlich nehmen, ergibt sich eine undogmatische und weitreichende Vorstellung von der Schicht der „Obe­ren“, sowohl Besitz wie andere Merkmale des Privilegiertseins wie Bildung, Prestige oder Macht umfassend. Zugleich erhält die Formulierung „Bei den Hochgestellten“ den Charakter eines umgangssprachlichen, aber tref­fenden - aus der Perspektive der Armen und Unterprivilegierten, der „Niedri­gen“, gespro­chenen - Ausdrucks. Der Sprecher, das lyrische Ich, schließt sich gewissermaßen dieser Ausdrucksweise - und damit dieser von unten nach oben ausgerichteten Perspektive - an. Im scheinbar Schlichtesten steckt also in ver­dichteter Form ein Maximum an Sinn. In einem Enjambement wird der Titel fortgesetzt: „Gilt das Reden vom Es­sen als niedrig.“ Statt „primitiv“ oder „banal“ steht ein „niedrig“, das die Meta­phorik „oben/unten“ etabliert und damit auch das zugrundeliegende Klassenver­hältnis aufruft; zugleich findet eine Entlarvung des ideologischen Charakters des Ausdrucks „niedrig“ statt, dessen pejoratives Moment durch den indirekten Hinweis auf die Etymologie bzw. die Herkunft der Metapher erklärt wird: An sich ist das Wort „niedrig“ wertfrei, erst im Munde der „Hochgestellten“ erhält es den abwertenden Charakter im Sinne von „plebejisch“ oder gar „schmutzig“ (so läßt sich ja auch „schlecht“ auf „schlicht“ zurückführen). Durch poetologi­sche „Animation“ kommt eine Entlarvung zustande, wie sie etwa Nietzsche in seiner Genealogie der Moral diskursiv vornimmt: Die Wertungen und sogar Wortbildungen gehen auf soziale Machtverhältnisse zurück. Auch im Substantiv „Essen“ steckt mehr als nur die wörtliche Bedeutung; es ist Metapher für die elementaren Lebensmittel oder metonymisches pars pro toto für die Subsistenzmittel überhaupt. Damit etabliert sich noch eine weitere Be­deutungsschicht: Das „Reden“ über die Subsistenzmittel gilt überhaupt als „niedrig“; über deren Herkunft ‚spricht man nicht’. Und dadurch, daß das ele­mentarste Subsistenzmittel, das „Essen“, genannt wird, gewinnt Brechts Formu­lierung auch die Konnotation, daß es - für die „Niedrigen“ - um die allernötigs­ten Subsistenzmittel, das Existenzminimum geht. Auch „Reden“ kann im übertragenen Sinn aufgefaßt werden, es steht für Denken, Schreiben, Philosophieren, ja die materialistische Philosophie im be­sonderen. Die nächsten Zeilen liefern die Begründung für die aufgestellte These; und dies wieder in denkbar ‚primitivster’, ‚niedrigster’ Ausdrucksweise: „Das kommt:“ heißt es abkürzend und verdichtend, ein umständliches und unrhyth­misches „davon, daß“ aussparend, „sie haben/ schon gegessen“. Die witzige Pointe wird in die kurze letzte Zeile der ersten Strophe gedrängt, ähnlich wie in Epigrammen, Haiku oder den Schlußzeilen (dem „Adoneus“: /--/-) der Sapphi­schen Ode: „schon gegessen“ (/-/-). Der Zeilensprung, das Enjambement (nach „haben“) bewirkt eine minimale Pause, die wie eine stauende Synkope wirkt, wo­durch die Schlußzeile umso pointierter herausgehoben wird. Man erkennt Bruchstücke eines Metrums, die den Zeilen Rhythmus verleihen: „Das kommt: sie haben/ schon gegessen“: /- . - /- ;  /-/- . Die Skandierung erinnert wieder an die Odenform, von welcher der freie Vers, der vers libre, seinen Ausgang nahm. Kein festes Metrum etabliert sich bei Brecht, aber durch Zeilensprung und be­wußte Skandierung bildet sich - trotz großer Nähe zur reinen Prosa - ein Ge­bilde in freien Rhythmen heraus. Brecht schreibt in seinem Aufsatz Über reim­lose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen von 1938, daß seine Gedichte ohne Reim und festen Rhythmus gleichwohl „lyrisch“ genannt werden dürften, weil sie ei­nen „wechselnden“ Rhythmus hätten. Brechts scheinbare Prosa gehorcht im Grunde einer sehr feinsinnigen und raffinierten „melopoeietischen“ Rhyth­mik, so wie seine schein­bar prosaischen Ausdrücke im Grunde leicht überhör­bare reflexive „logopoeietische“ Implikatio­nen haben und sich bis zu kunstvoll verdichteten Chiffren entwickeln können. In dem Aufsatz Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen machte Brecht deutlich, daß er die „Glätte und Harmonie des konventionellen Verses“ sowie die ihm „unangenehme einlullende, einschläfernde Wirkung“ des regelmä­ßigen Metrums vermeiden wollte, und daß der Reim seiner Meinung nach dem Gedicht „leicht etwas In-sich-Geschlossenes, am Ohr Vorübergehendes“ ver­leihe. Dagegen war Brecht darauf aus, die Aufmerksamkeit des Lesers oder Hö­rers mit allen Mitteln zu mobilisieren; dazu schienen ihm freie Verse am besten geeignet; die besondere Technik des Sprechens, die Brecht sich in Sachen freie Rhythmen auf dem Theater erarbeitet hatte, nannte er, wie bekannt, „gestisch“; „die Sprache sollte ganz dem Gestus der sprechenden Person folgen“. Wichtig erschienen ihm also die sozusagen leibnahe Geste, die Betonung des Wesentli­chen und die Formung des Sprechens nach Maßgabe einer ‚Demonstrations’-Lo­gik lebendiger, aber eminent sachbezogener Aussagen. Sein Beispiel nahm Brecht aus der Bibel-Übersetzung Luthers: „Wenn dich dein Auge ärgert: reiß es aus“ (statt „Reiße das Auge aus, das dich ärgert“). Hier gehen Rhythmus und Form mit der Logik der Aussage mit, betonen sie, ja formen sie: Dem ursächli­chen Är­gernis folgt als Konsequenz ein Appell bzw. Befehl. Brecht sagte, seine eigenen Verse seien nicht  o h n e  Rhythmus; seine freien Rhythmen hätten zwar „kei­nen regelmäßigen“, aber doch „einen (wechselnden, synkopierten, gestischen) Rhythmus“. Trotz der stets beabsichtigten Schlichtheit schien Brecht für die­sen Zweck die „gehobene Sprache“ (beispielsweise der alten Schle­gel-Tieckschen Shakespeare-Übertragung) sehr geeignet, während er die „ölige Glätte des übli­chen fünffüßigen Jambus“ ablehnte. Die aparte Mischung aus Metrum und Prosa sowie aus erhabener, zumindest gehobener Sprache und um­gangssprachli­chen Wendungen ist ein dominanter Charakterzug Brechtschen Lyrik und Dra­matik. Freie, unregelmäßige Rhythmen machten es möglich, daß man ihnen die „Sprechweise des Alltags“ oder den „nüchterne[n] Ausdruck“ integriert und den „Tonfall der direkten, momentanen Rede“ verleiht. Die Form müsse zum Inhalt passen, ja ihn formen: „Bei unregelmäßigen Rhythmen bekamen die Ge­danken eher die ihnen entsprechenden eigenen emotionellen Formen“. Emo­tive (den Selbstausdruck betonende) und konative (an das Du appellierende) Sprache be­dingen den gewünschten „gestischen“ Rhythmus. Er ist Ausdruck der subjekti­ven, personalen Qualität des Sprechens, weckt die Aufmerksamkeit und lenkt diese auf die Logik des Gedankengangs, indem er das Wichtige betont und die mitzuteilenden Sinn-Einheiten in Form einer sukzessiven Darstellung in kleinen Portionen vermittelt - ohne Rücksicht auf grammatische Perfektion und übliche, konventionelle, gängige, glatte Darstellung. Klaus Birkenhauer hat an der „eigen­rhythmischen Lyrik“ Brechts und ihrem „gestischen“ Rhythmus beo­bachtet, daß hier im Prinzip allen Wörtern das selbe Gewicht zukommt und daß sie auf diese Weise ihren spezifischen „Kunst-Charakter“ erhalten. Man kann daher den Ein­druck gewinnen, daß der „gestische“ Rhythmus für Brecht auch Selbstzweck und nicht nur inhaltsbezogenes, politisches Mittel war. Vielleicht war Brecht die Musikalität seiner Verse in letzter Instanz wichtiger als ihr politi­scher Inhalt, wie ihm ja letztlich auch das Theater wichtiger war als die Verände­rung der Welt. Werfen wir einen Blick auf das Metrum der Verse der ersten Strophe:   Bei den Hochgestellten       --/--- Gilt das Reden vom Essen als niedrig.             --/--/--/- Das kommt: sie haben          -/. -/- Schon gegessen.                   --/-           Der Wechsel der Rhythmen, die Enjambements („Hochgestellten/Gilt“, „haben/ Schon“) und die Zäsur („kommt:// sie“) mobilisieren die Aufmerksamkeit des Lesers. Einen Gleichklang bilden die Anapäste der ersten und letzten Zeile (--/---; --/-) und der dreifache Anapäst der zweiten Zeile (--/--/--/-); der Rhythmus­wechsel ist von Zeile zu Zeile spürbar, wird aber insbesondere durch die - von den übrigen Metren abweichenden - zwei Jamben der dritten Zeile (-/. -/-) er­wirkt. Die Hebungen der freien Rhythmen lassen - trotz der relativ gleichen Beto­nung aller Worte, wie sie Birkenhauer beobachtete - die wichtigsten Worte oder Morpheme der sperrigen Sätze deutlich hervortreten: Hoch/ Reden/ Essen/ niedrig/ kommt/ haben/ gegessen. Die ‚primitive’ Grammatik, die unübliche Syntax be­gründen sowohl den „gestischen“ Rhythmus als auch die Klarheit des Gedan­kengangs. So wird beispielsweise der grammatisch korrekte und der Kon­vention gehorchende Satz „Das kommt davon, daß sie/ schon gegessen haben“ mit seiner Glätte vereinfacht und entstellt zum ‚holprigen’, aber eindringlichen „Das kommt: sie haben/ schon gegessen“. Damit wird die Begründungs-Formel („Das kommt“) verfremdet und als logisches Scharnier bewußt hervorgehoben; auch wird der Grund und seine bezeichnende Vergangenheitsform („gegessen“) eigens herausgestellt. Die Zäsur zwischen „das kommt:“ und „sie haben“ weckt des Lesers oder Hörers Aufmerksamkeit. Ähnliches ist für alle Strophen, vor al­lem aber die letzte zu konstatieren. In ihr wird schlicht und zugleich massiv das Untere (Niedrige) dem Oberen (Hohen) entgegensetzt; penetrant wird eine Be­gründung und Kondition in Form einer aufdringlichen Wiederholung (die „Niedrigen“, das „Niedrige“) genannt und am Ende das angestrebte Ziel („hoch“) herausgestellt   Wenn die Niedrigen nicht    --/--- An das Niedrige denken       --/---- oder --/--/- Kommen sie nicht hoch.      ----/   Das - natürlich wieder freie - Metrum zeigt, wie vehement das „Niedrige“ und zugleich das ‚Hohe’ hervorgehoben und wie scharf sie einander entgegengesetzt werden; das „hoch“ wird als einzige Hebung der fünfsilbigen Zeile als letztes Wort quasi ans Ende einer Leiter gestellt.   Die Schlußpointe „Schon gegessen“ bedeutet wörtlich, daß die „Hochge­stellten“ das „Essen“ schon hinter sich gebracht haben - und deshalb nicht über es nachdenken müssen. Aber die temporale Konstruktion ist selbst nur eine Metapher für ein nicht-temporales, existentielles Verhältnis: „sie haben“ - die „Niedrigen“ haben nichts. Noch einmal verändert sich der metaphorische Status der Aussagen: Daß die „Niedrigen“ noch nicht „gegessen“ haben, also gar nichts haben, ist natürlich nicht ganz wörtlich zu nehmen; doch rückt die übertrei­bende Metaphorik der Wahrheit sehr nahe. Ein Implikat der gesamten Metapho­rik ist jedenfalls, daß die „Niedrigen“ „vom Essen“ reden, und zwar deshalb, ‚weil sie noch nicht gegessen haben’ - wie ja umgekehrt die „Hochgestellten“ nicht vom „Essen“ reden, weil sie „schon gegessen“ haben. Damit haben wir eine weitere Implikation der ersten Strophe vor uns: die Abhängigkeit des „Redens“ vom „Essen“, des Redens und Denkens von der Verteilung der Subsistenzmittel, des ideologischen Überbaus von der ökonomischen Basis, des „Bewußtseins“ vom „Sein“ (wie ein zentrales Axiom des Marxismus lautet). Die zweite Strophe nennt nun die den „Hochgestellten“ diametral entgegen­gesetzte Schicht, nach der marxistischen Nomenklatur die „Klasse der Arbeiter“, der Besitzlosen: die „Niedrigen“. Brecht prägt hier einen Neologismus, ausge­hend von der Metaphorik des „Oben und Unten“, und leitet ein intratextuelles Wortspiel ein, das „niedrig“, „die Niedrigen“ und „das Niedrige“ miteinander verbindet. Wie beim Ausdruck von den „Hochgestellten“ spielt Brecht zwar auf die marxistischen Grundgedanken (zum „Kapitalverhältnis“ mit Kapitalisten hier und Arbeitern dort) an, aber er weicht undogmatisch vom Jargon ab und erwei­tert auch hier mit seiner Chiffre den avisierten Bedeutungsradius; so können den „Niedrigen“ neben dem „Proletariat“, der „Arbeiterklasse“, beispielsweise auch niedrigste Angestellte aus dem Dienstleistungssektor u.ä. zugerechnet werden. Brechts Neuschöpfung ist unorthodox und offener als das marxistische Fachvo­kabular; sie soll auch das ‚Volk’, die Ungebildeten, erreichen. (Diesem „Sollen“ aber stand und steht die Hürde des Hochelaborierten der Rhythmik, der Ver­dichtung, der Implikationen, der - marxistische Theorie voraussetzenden - Neologismen, das verborgene Raffinement, im Weg.) So sehr Brechts Lyrik den Anschein von trockener Prosa und bescheidener Simplizität macht, so sehr herrscht in Wirklichkeit die verborgene „Überstruktu­riertheit“ (in den feinsinnigen Rhythmen, anspielungsreichen Verdichtungen und weitreichenden Implikationen). Es ist richtig, daß das „phonopoeietische“ Moment - im Sinne von farbigen und stimmungsvollen Bildern - fehlt; Brechts Bildlichkeit (hoch, niedrig, Essen, Fleisch usw.) ist sehr karg und begriffsnah. Dafür ist das „logopoeietische“ Spiel umso dominanter und raffinierter. Brechts Gedicht steht daher der „Gedankenlyrik“ sehr nahe. Zur Verdeutlichung des Gegensatzes „hochgestellt“-“niedrig“, der auf das marxistische Grundaxiom des „Kapitalverhältnisses“ mit seiner Logik der Pro­fitmaximierung und Konkurrenz zurückgeht, soll hier die bereits erwähnte Schaukel-Parabel bzw. -Metapher aus der Heiligen Johanna der Schlachthöfe zi­tiert werden:   Da sitzen welche, Wenige, oben Und Viele unten, und die oben schreien Hinunter: kommt herauf, damit wir alle Oben sind, aber genau hinsehend siehst du was Verdecktes zwischen denen oben und denen unten Was wie ein Weg aussieht, doch ist’s kein Weg Sondern ein Brett, und jetzt siehst du’s ganz deutlich ‘s ist ein Schaukelbrett, dieses ganze System Ist eine Schaukel mit zwei Enden, die voneinander Abhängen, und die oben Sitzen oben nur, weil jene unten sitzen Und nur solang jene unten sitzen, und säßen nicht mehr oben, wenn jene heraufkämen Ihren Platz verlassend, so daß Sie wollen müssen, diese säßen unten In Ewigkeit und kämen nicht herauf. Auch müssen’s unten mehr als oben sein Sonst hält die Schaukel nicht. ‘s ist nämlich eine Schaukel.   Das Bild der Schaukel entfaltet den systemischen bzw. strukturalen Zusammen­hang der Klassen, die Logik des Sich-wechselseitig-Ausschließens. Das ‚Eigen­tum’ der Oberen ist nur möglich auf Grund des erarbeiteten „Mehrwerts“ bzw. der „Mehrarbeit“ der Unteren. Dieses Verhältnis aber ist etwas „Verdecktes“, durch die Ideologie der angeblichen Gleichheit (und Freiheit und Brüderlich­keit) Verschleiertes. Die systemische Logik der Schaukel-Parabel liegt auch Bei den Hochgestellten zugrunde.   „Die Niedrigen müssen von der Erde gehen“ heißt es in der zweiten Strophe in biblischen, archaisierenden Worten, „Ohne vom guten Fleisch/ Etwas geges­sen zu haben.“ Nicht nur wörtlich ist dieser Satz zu nehmen, sondern wieder auch figürlich: „gutes Fleisch“ steht metaphorisch für die besseren, teureren Le­bensmittel und als pars pro toto für die besseren Subsistenzmittel (und das hö­here Einkommen) überhaupt. Zu der sparsamen, simplifizierenden Aus­drucks­weise paßt das schlichte, geradezu plumpe „gegessen“; es wiederholt ohne Scham wortwörtlich das Partizip der letzten Zeile der ersten Strophe. Solche kindli­che Plumpheit ist Absicht, denn die Schlußstrophe „Wenn die Niedrigen nicht/ An das Niedrige denken/ Kommen sie nicht hoch“ wiederholt in ähnlicher Weise, penetrant, aufdringlich, schmucklos, das Adjektiv „niedrig“ bzw. das Substantiv „Die Niedrigen“ der Zeilen 1 und 4 und fügt ihnen noch ein Drittes, „das Nied­rige“, und nochmals ein „hoch“ hinzu. Das Wortspiel in der Form einer Paro­nomasie bzw. Annominatio erweckt den Anschein der variationslosen, geistlosen Wiederho­lung, auch den Anschein der Redundanz (des Gegensatzes zu Dichte, d. h. der Ausführlichkeit und Vervielfachung der Information). (Dieses Stilprin­zip fanden wir bereits in ähnlich penetranter Form im Text Wer aber ist die Par­tei?) Doch der Schein trügt. Obgleich Redundanz selbst ein stilistisches Mittel ist und vor allem der (bei Brecht herben, dissonanten) Musikalisierung dienen kann, wird bei Brecht doch häufig deutlich, daß die Simplifizierungen und Wie­derholungen durchaus mit verstecktem Sinn bzw. Hintersinn aufgeladen sind - also so redundant, wie sie scheinen, gar nicht sind. Die Simplifizie­rung ist also real und zugleich Schein, daher wohl sprach Adorno vom „artistischen Prinzip der Simplifikation“[16]. So spielt z. B. das „hoch[kommen]“ der letzten Zeile des Ge­dichts auf die „Hochgestellten“ des Titels an, d. h. auf die Ebene der Besserge­stell­ten, nach der die „Niedrigen“ streben; „hochkommen“ meint aber zunächst, wörtlich bzw. idiomatisch genommen, aufstehen, sich erheben nach einem K.O., nach einer Krankheit, aus dem Elend. Das scheinbar Redundante erweist sich als sein Ge­genteil, als Verdichtung. Ebenso spielt die Nennung der „Niedrigen“ auf das Adjektiv „niedrig“ - im Sinn von plebejisch, primitiv - an, wendet den Aus­druck aber ins Ironische: „Die Niedrigen“, als stünde das Nomen in An­führungszei­chen, damit signalisierend, daß nur aus der Perspektive der „Hochge­stellten“ die Unterschicht als „primitiv“, „plebejisch“, „niedrig“ erscheint. Aber andererseits ist in der Formulierung „Die Niedrigen“ auch die wörtlich-etymo­logi­sche Bedeutung enthalten: die Unteren, die Unterschicht, die Klasse mit dem „niedrigen“ Einkommen, die von den „Hochgestellten“ sozusagen Unterworfe­nen, Erniedrigten (sowohl auf die „Arbeiterklasse“ als offenbar auch auf weitere sozial unter­privilegierte Schichten gemünzt). Die vorletzte Zeile des Gedichts faßt mit dem Ausdruck „das Niedrige“ alle Bedeutungsaspekte zusammen. Also auch hier scheinbar Redundanz, in Wirklichkeit versteckte Verdichtung. Selbst in der scheinbar banalen, plumpen, schmucklosen, kunstlosen Wiederholung des Parti­zips „gegessen“ verbirgt sich Sinn: Dem „schon gegessen“ steht scharf das „nichts gegessen“ („Ohne [...] Etwas gegessen zu haben“) gegenüber; die penet­rante Wiederholung („gegessen“/ „gegessen“) verschärft die Antithese („schon“ - „Ohne ...“) und damit den Antagonismus zwischen „hoch“ und „niedrig“, zwi­schen „Kapital“ und „Arbeit“, zwischen Kapitalbesitzern und Nichts-als-Ar­beitskraft-Besitzern. Die dritte Strophe thematisiert das Verhältnis von Arbeit und Freizeit und von Bildung und Ungebildetheit: „Nachzudenken, woher sie kommen und/ Wohin sie gehen, sind sie/ an den schönen Abenden/ Zu erschöpft.“ Wieder in biblischen, archaisierenden und damit schlichten, unprätentiösen Worten werden Grundfragen der Religion und Philosophie aufgeworfen. Die „Ausgebeuteten“ - dieser Ausdruck hatte, wie gesagt, zumindest um 1930 und im ganzen 19. Jahr­hundert seine Berechtigung - können ihre Freizeit wegen „Erschöpfung“ zu nichts anderem als zur Rekreation, zur Wiederherstellung der Arbeitskraft, nüt­zen; leichte Ironie liegt auf der Erwähnung der „schönen Abende“, die den „Niedrigen“ - wegen ihrer „Erschöpfung“ – keineswegs ästhetischen Genuß be­reiten können. Jeden­falls ist an die Schulung ästhetischer Erfahrung und an den Erwerb von Bildung, Wissen und philosophischer Theorie generell nicht zu den­ken; das ist Privileg derer, die in eine andere Klasse hineingeboren werden. Also auch das „Nachdenken“ ist wieder eine Metapher, eine Litotes bzw. Untertrei­bung, eine Simplifizierung. Oberhalb der wörtlichen Bedeutung erheben sich wieder konnotierte Gedanken, so daß erneut eine implikationsreiche Verdich­tung zu­stande kommt. Auch ist der gesamte Gedankengang zu den „schönen Abenden“ wieder nur metaphorisch bzw. metonymisch zu nehmen: Zweifellos ist mitge­dacht, daß es nicht nur um die „Abende“ geht, sondern um Bildungs­chancen überhaupt, angefangen von der Sozialisation in der Familie bis zum Zu­gang zu Gymnasium und Universität. Die vierte Strophe, parallel zu den ersten drei gearbeitet, d. h. in einem grammatikalischen und gedanklichen Parallelismus zu ihnen stehend, hat noch einmal die „Freizeit“ zum Thema, die Institution „Urlaub“, die erst im Lauf des Kampfes der Arbeiterklasse um ‚gerechten’ Lohn, Verbot der Kinderarbeit, Be­grenzung der Arbeitszeit usw. historisch erkämpft wurde. In den 30er Jahren be­ginnt erst, was wir heute „Tourismus“ nennen; zuvor waren Gebirgs- und Ita­lienreisen etc. dem Adel, den Forschern (wie A. von Humboldt) und der Groß­bourgeoisie vorbehalten. Zur Zeit der Niederschrift des Gedichts standen den unteren Schichten weder die Zeit noch die Ressourcen für große Reisen zur Verfügung. In der von Reduziertheit und Schlichtheit geprägten Formulierung vom „Gebirge“ und vom „Meer“ ist also wiederum ein ganzer Gedankenkomplex verdichtet. Der prädikative Satzteil „Haben sie noch nicht gesehen/ Wenn ihre Zeit schon um ist“ variiert die archaisierende, biblische, schlichte Formel „müs­sen von der Erde gehen“; die temporale Konstruktion steht in Parallele zur räumli­chen Aussage, die Kürze der Zeit entspricht reziprok der Weite des Raums, der Ferne von „Gebirge“ und „Meer“. Das „schon“ signalisiert Plötz­lichkeit und deutet an, daß die Zeitspanne bzw. Lebensspanne erschreckend kurz ist oder zumindest - auf Grund der „erschöpfenden“ Arbeit - kurz erscheint; das „schon“ steht damit in ironischer Parallele zum „Schon gegessen“. Sind die ersten vier Strophen in Parallelen gearbeitet, so weicht die letzte Strophe in ihrer Form gänzlich von der bisherigen Bauart ab; sie ist die Pointe des Ganzen, sie bringt das Fazit, das „fabula docet“, die „Moral“, die Schlußfolge­rung, ähnlich dem „concetto“, dem letzten Terzett der Sonett-Form. Die konditi­onale „wenn-dann“ Konstruktion stellt in maximaler Simplizität noch einmal die „Hochgestellten“ den „Niedrigen“ gegenüber: „Wenn die Niedrigen nicht/ An das Niedrige denken/ Kommen sie nicht hoch“: „hoch“ zu den „Hochgestellten“ bzw., wie schon erwähnt, „hoch“ aus dem Elend, wie dem Wortspiel, der Paro­nomasie, zu entnehmen ist. Die penetrante Wiederholung („die Niedrigen“, „das Niedrige“), ebenso ein Wortspiel in der Form der Paronomasie, erweckt erneut den Anschein von Redundanz und Plumpheit, macht den Eindruck einer sinn­lee­ren, fast tautologischen Aussage. Und doch werden mit „die Niedrigen“ alle bis­her evozierten Konnotationen (die soziale Stellung der Unterschicht, der he­rablassende Blick auf die ‚primitiven Plebejer’ usw.) noch einmal aufgerufen und dann verschärft und polemisch in das Substantiv „das Niedrige“ gedrängt und konzentriert. „An [etwas] denken“ ist eine saloppe, untertreibende Formu­lie­rung, eine letztlich metaphorische Litotes für die nötige Bewußtseinsbildung; es geht darum, ‚das Niedrige zu denken’, d. h. sich das Erniedrigtsein, das Un­terdrücktsein, das Unterlegensein, das niedrige Niveau von Einkommen, Zeit­budget, Prestige, Macht, Bildung usw. zu Bewußtsein zu bringen. Nach Karl Marx bestimmt das „Sein“ das „Bewußtsein“; das sogenannte „falsche Bewußt­sein“ betrifft nicht allein die „Überbau“-Regionen der ideologischen Vorstellun­gen der „Hochgestellten“ und der „Niedrigen“, schon die „ökonomi­sche Basis“ ist undurchsichtig, verunklärt die Zusammenhänge zwischen Ware und Geld, Kapital und Arbeit, Lohn und Mehrarbeit bzw. Mehrwert unterm Nebelschleier von Gerechtigkeit, Gleichheit, Freiheit, Eigentum usw. In der Nomenklatur des Marxismus ist daher die Rede von der Notwendigkeit von Bewußtseinsbildung und Ideologiekritik: Die „Klasse an sich“ soll zur „Klasse für sich“ werden, die Arbeiterklasse soll zum „Klassenbewußtsein“ gelangen. Wenn die „Niedrigen“ nicht Klassenbewußtsein entwickeln, „Kommen sie nicht hoch“. Dieser Gedan­kengang ist in der scheinbar simplen Aussage „An das Niedrige denken“ impli­ziert; scheinbar Primitives erweist sich erneut als impli­kationsreich Verdichtetes; beinahe könnte man von Verschlüsselung und Chiff­rierung sprechen, wenn dies nicht der lehrhaften Intention des Textes widersprä­che; das Gedicht will nicht Komplexes in Simplem verstecken, im Gegenteil, es will Komplexes - soweit möglich - in Einfachstem offenbaren, will durch Kom­plexitäts-Reduktion di­daktisch, lehrhaft sein. Freilich stellt sich hier die Frage, ob dieses Vorhaben überhaupt gelingen kann, ob es nicht das Wissen voraus­setzt, das es lehren möchte. „Preaching to the saved“? Predigen vor schon geret­teten Seelen? Beleh­rung derer, die schon wissen?   […]   Vor dem Hintergrund der sich in der Lösung abzeichnenden unorthodoxen, skeptischen Haltung Brechts wird ein kryptischer, fast hermetischer Text der Buckower Elegien, die nicht umsonst „Elegien“ heißen, verständlich:   DER RADWECHSEL(e: 1953, d: 1957)   Ich sitze am Straßenrand [recte: Straßenhang] Der Fahrer wechselt das Rad. Ich bin nicht gern, wo ich herkomme. Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre. Warum sehe ich den Radwechsel Mit Ungeduld?   Die dritte und vierte Zeile sind fast identisch, d. h. von Anaphern und Wieder­holungen geprägt. Der „grammatische Reim“ ist unübersehbar: Ein Parallelismus formt die Mitte des Gedichts, die Syntax und ihre Signifikanten sind parallel - bis auf die Entgegensetzung von „herkomme“ und „hinfahre“; doch auch dieser Entgegensetzung liegt - wie jeglicher Antithetik - ein Parallelismus zugrunde, hier liegt er auf der Ebene der Signifikate („hin-“ und „her-“gelangen). Auch die typisch Brechtsche Synkope im Enjambement nach „Radwechsel“, dem individu­ellen Duktus der „unregelmäßigen Rhythmen“ Brechts und seinem „gestischen Rhythmus“ gehorchend, ist deutlich erkennbar. Die karge Sprache, das spröde Metrum, die Schlichtheit von Klang und Melodie, die Sachlichkeit, die Nüch­ternheit und das scheinbar Prosaische haben sich seit Gedichten wie Wer aber ist die Partei? mehr und mehr durchgesetzt. Neu sind die extreme Kürze, die fast ans Haiku erinnert, und die Begrenzung auf eine alltägliche, triviale Situation. Neu sind auch das Entspannte und Leichfüßige der Verse, die Vieldeutigkeit, das Parabolisch-Allgemeine, die Offenheit, das Lakonische, Lapidare und Epigram­matische der kurzen Gedichte. Ist der Hauch von Hermetik, der über ihnen liegt, der Ausdruck politischer Chiffrierung (was auf eine gewisse Vorsicht dem DDR-Regime gegenüber zurückzuführen wäre)? Das lyrische Ich ist Beobachter, also nicht selbst tätig. Das Wechseln des Ra­des impliziert, daß die gezeigte Situation keine Änderung bringt, sondern nur das Weiterfahren ermöglicht. Daß es in dem Gedicht nicht wörtlich um das Fah­ren (mit PKW oder Bus) geht, d. h. daß das Fahren nur metaphorisch gemeint ist, geben die nächsten beiden Zeilen zu erkennen, die ganz allgemein und un­spezifisch vom Vergangenen und vom Zukünftigen sprechen. Sie sind - falls hier nicht versteckte, chiffrierte Botschaften vorliegen - vielbezüglich, offen (offen für psychologische, lebensgeschichtliche, soziale, politische Konkretisierungen). Das Bild der Fahrt wird so zur Parabel. Die beiden parallelen Zeilen drücken aber auch unmißverständlich aus, daß das Ich weder die Vergangenheit noch die Zukunft in positivem Licht sieht. „Ich bin nicht gern, wo ich herkomme./ Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.“ Das Präsens der beiden Sätze hat iterativen Charakter, es deutet auf die Wiederholtheit der beschriebenen Erfahrung hin („Ich bin jemand, der nicht gern ...“). Von dieser subjektiven Befindlichkeit und dem Bild vom Radwechsel läßt sich nun deduzieren, daß es auch objektiv keinen Grund für eine freudige Erwartung gibt, daß eine prinzipielle Gleichförmigkeit und Defizienz die wortwörtliche Reise und die ‚Reise durchs Leben’ charakteri­sieren. Dies ist der Grund dafür, daß sich das Ich überhaupt die Frage stellen kann, weshalb es denn den „Radwechsel“ mit „Ungeduld“ sehe. Gibt es ein fer­nes Ziel? Oder ist der Weg das Ziel? Die erwähnte „Ungeduld“ bezieht sich nicht allein auf den buchstäblichen „Radwechsel“, sondern auch auf Pannen und Reparaturen während der ‚Reise durchs Leben’. In der unbestimmten, vielbe­züglichen „Ungeduld“ spricht sich eine - vielleicht unbewußte - Hoffnung aus, die Hoffnung auf eine Veränderung zum Besseren, obwohl es doch andererseits keine Gewißheit in bezug auf einen zukünftigen Fortschritt gibt, keine Erwar­tung eines endgültigen Zieles, eines beruhigenden Resultates. Das Gedicht kennt kein teleologisches Denken, keinen Fortschrittsglauben mehr (wie er für den Historismus Hegels und Marxens noch selbstverständlich war). Veränderung um jeden Preis? Leerlauf um jeden Preis? (Weitermachen, obwohl man weiß, daß „Godot“ nicht kommen wird?) Eher ein Denken, das nicht an ein finales, end­gültiges Ankommen glaubt, sondern sich an einen permanenten Prozeß des Re­flektierens und Handelns -‚auf Verdacht’ - hält, in der - wenn auch geringen - Hoffnung auf mögliche Erfolge, an eine „permanente Revolution“ ohne ein end­gültiges Telos. Etwas wie das „Prinzip Hoffnung“, wie Ernst Bloch es nannte, scheint sich in der Frage des lyrischen Ich nach dem Sinn der „Ungeduld“ aus­zuwirken und auszudrücken. Aber das wäre wohl eine Überinterpretation, denn Pannen-Behebung hat wenig von einer „permanenten Revolution“. Es geht um ein Minimum an Hoffnung, unbestimmter und unbewußter Hoffnung. Das Sinnbild vom Radwechsel führt allerdings auch noch eine ganz konkrete Konnotation mit sich: Die Zukunft des Sozialismus (in der DDR - und der Sowjetunion) scheint etwas zu sein, worauf das lyrische Ich nicht besonders er­freut zusteuert. Und natürlich war es nicht gerne dort, wo es herkommt: in der Zeit des Ersten Weltkriegs, der Weltwirtschaftskrise, des Faschismus, des Zwei­ten Weltkriegs, des Exils und der beschwerlichen Anfänge des DDR-Sozialismus (er war geprägt von der Stalinschen Doktrin vom „Aufbau des Sozialismus in ei­nem Land“ anstelle des Trotzkischen Wartens auf die „Weltrevolution“ - daher auch die Nötigung zu „verdoppelter Arbeit“ in der Lösung). Dennoch blickt das Ich mit „Ungeduld“ auf eine Unterbrechung, eine Panne im Ablauf der Ge­schichte, im historischen Prozeß, und hofft (zumindest unbewußt), daß sich in der Zukunft Chancen einer Veränderung zum Besseren ergeben könnten, ob­gleich alle Zeichen dafür sprechen, daß diese Zukunft, die nahe Zukunft jeden­falls, nicht das Erwünschte bringen dürfte. Mit der heilsgewissen Doktrin des historischen Materialismus nach Friedrich Engels und der Stalinschen determi­nistischen Dialektik hat dieses Gedicht Brechts offensichtlich nichts mehr zu tun; doch die Parallele zum undogmatischen Marxismus Ernst Blochs ist er­kennbar. Im übrigen aber ist das Radwechsel-Sinnbild bewußt offen gehalten, es hat den Charakter einer modernen Parabel, Züge der offenen Parabolik der Mo­derne.


Ein Abschnitt über das Gedicht „sozialpartner in der rüstungsindustrie“ von Hans Magnus Enzensberger aus dem Enzensberger-Kapitel in: Hans H. Hiebel: Das Spektrum der modernen Poesie. Interpretationen deutschsprachiger Lyrik 1900-2000 im internationalen Kontext der Moderne. Teil II (1945-2000), Würzburg: Königshausen + Neumann 2006, 622 S.

sozialpartner in der rüstungsindustrie(d: 1957)ein anblick zum zähneknirschen sind die fetten eber auf den terrassen teurer hotels, auf den golfplätzen sich erholend von mast und diebstahl, die lieblinge gottes.                                    schwerer bist du zu ertragen, niemand im windigen trenchcoat, bohrer, kleinbürger, büttel, assessor, stift, trister dein gelbes gesicht:   verdorben, jeder nasführung aus- geliefert, ein hut voll mutlosen winds, eigener handschellen schmied, geburtshelfer eigenen tods, konditor des gifts, das dir selbst wird gelegt werden.                                    freilich versprechen dir viele, abzuschaffen den mord. gegen ihn zu feld zu ziehn fordern dich auf die mörder. nicht die untat wird die partie verlieren: du: sie wechselt nur die farben im schminktopf: das blut der opfer bleibt schwarz.   Enzensbergers Gedicht erscheint 1957. 1958, im Jahr der Massenkundgebungen gegen die geplante Atombewaffnung der Bundeswehr, wird es in der Zeitschrift konkret abgedruckt. 1955 begann in der BRD die Wiederbewaffnung, am 26. 3. 1954 war dafür bereits eine Grundgesetzänderung verabschiedet worden. 1956 wurde die allgemeine Wehrpflicht eingeführt, die das Berufsheer der Freiwilligen ergänzte. Die geschworen hatten, nie mehr werde ein deutscher Arm ein Gewehr in die Hand nehmen, plädierten für den Aufbau der Bundeswehr. (Schon von 1950 an betreibt Bundeskanzler Adenauer eine Politik der Remilitarisierung; 1954 tritt die BRD der NATO bei.) Adenauer und Strauß fordern schon 1956/57 und in den darauffolgenden Jahren Atomwaffen für die BRD. Der Kalte Krieg zwischen Ost und West, der nach Meinung der kritischen Intellektuellen dieser Jahre leicht hätte in einen Weltkrieg führen können, war der Grund für weitverbreitete Ängste; der Ungarnaufstand 1956, niedergeschlagen von sowjeti­schen Panzern, und die Kuba-Krise 1962, als sowjetische Tanker mit Atomrake­ten an Bord auf Kuba zusteuerten, waren Höhepunkte der kritischen Situationen dieser Jahre. Ähnlich wie für Bertolt Brecht die faschistischen Jahre, waren für Enzensberger diese Krisenjahre kein Anlaß für Oden und Idyllen. Angst und Engagement bedingten die prophetisch gemeinten, dystopischen (negativ-utopi­schen) Warnungen, die das oben zitierte Gedicht und viele andere (mit ähnlich apokalyptischen Warnrufen) auszeichnen. Die Sprache ist ungehemmt emotio­nal, das ist neu für die deutsche Lyrik (aber Majakowski und die amerikanische beat generation hatten das vorgemacht); ihre Expressivität greift Expressionisti­sches wieder auf, aber ohne dessen Outriertheit fortzusetzen. „Diebstahl“ wird der Oberschicht vorgeworfen, sei damit nun kriminelle Ausbeutung gemeint oder ‚legales‘, systemimmanentes Abschöpfen der arbei­tenden Masse. (Karl Marx hatte in Das Kapital die ‚legale‘ Abschöpfung als Schöpfung von „Mehrwert“ mittels „Mehrarbeit“ bestimmt, als einen sich quasi automatisch ergebenden Profit, der über das „variable Kapital“, die Lohnkosten, und das „konstante Kapital“, den Wert der Maschinerie usw., hinausgeht). Ge­meint sind die Neureichen in Politik und Wirtschaft, die hemmungslos rheto­risch als „fette eber“ tituliert werden. Ihre Gewinne werden sozusagen in den Symptomen der Selbst-„Mast“ sichtbar. Sie werden – voll sarkastischer Ironie – „lieblinge gottes“ geheißen, weil sie stets auf die ‚Butterseite‘ des Lebens fallen – und weil sie auch die nächste „partie“ gewinnen werden (und sehr wahrscheinlich auch die letzte „partie“, den Nationalsozialismus, mit Gewinn hinter sich ge­bracht haben). „Gott“ kommt wohl auch deshalb ins Spiel, weil diese ewigen ‚Sieger‘ vermutlich den ‚Segen der Kirche‘ haben, d. h. aus der Verbindung von „Kirche“ und „Kapital“ hervorgehen.Wie im ironischen Titelgedicht verteidigung der wölfe gegen die lämmer wird indes die Passivität der Ausgebeuteten – zu denen neben den Arbeitern vor allem auch die Kleinbürger gezählt werden – als das größere Übel dargestellt: „schwe­rer/ bist du zu ertragen, niemand,/ im windigen trenchcoat, bohrer,/ kleinbürger, büttel, assessor, stift“. Der „niemand“ zählt nichts, gehört zu den unterlegenen, ohnmächtigen Unter- und Mittelschichten. Die Bestimmung der Ausgebeuteten wird nicht mehr, wie im Marxismus (beispielsweise bei Bertolt Brecht), über die Arbeiterklasse bzw. den Gegensatz von „Kapital und Arbeit“, vorgenommen, sondern sozusagen über die Idee einer Art „nivellierter Mittelstandsgesellschaft“, welche die Arbeiter- und Kleinbürgerschicht auf eine Stufe stellt, d. h., welche die angewachsene Masse der Angestellten in Dienstleistungssektor und Beam­tenapparat sowie die kleinen Einzelhändler und Gewerbetreibenden mit zu den Abhängigen zählt. (Die Vorgeschichte dieser Allianz liegt allerdings schon im Nationalsozialismus, den untere und mittlere Gesellschaftsschichten entschei­dend mitgetragen hatten.) Enzensbergers Annahme einer solchen Allianz geht freilich – zu Recht – nicht davon aus, daß auch die Oberschicht einer „Nivellie­rung“ zum Opfer gefallen wäre, sondern erkennt, daß die Privilegierten (in den Bereichen Industrie bzw. Kapital, Grundeigentum, Militär, Politik, in den staatli­chen Institutionen, in Rechtsprechung, Gesundheitswesen, Kirche, Management usw.) nach wie vor oder in noch stärkerem Maße bevorteilt sind. Die Arbeit­nehmer (Arbeiter und Angestellte) inklusive der Kleinbürger – die, wie gesagt, schon im Dritten Reich wesentlich zur Staatserhaltung beigetragen hatten – gel­ten als „mutlos“, als mundtot und ohne Zivilcourage, sie sind korrumpiert, ma­nipuliert, gefesselt durch sich selbst, durch Anpassung und Opportunismus: „verdorben“, „jeder nasführung ausgeliefert“, „eigener handschellen schmied“. Sie sind, zumal in der „rüstungsindustrie“, „geburtshelfer eigenen tods,/ kondi­tor[en] des gifts, das dir selbst/ wird gelegt werden“. (Diesen Gedanken hat schon Brecht formuliert: „Hinter der Trommel her/ Trotten die Kälber/ Das Fell für die Trommel/ Liefern sie selber.“) Nur die dümmsten Kälber wählen ihren Metzger selber! Im Namen des Kampfes gegen den Mord wird der Mord proklamiert[; um den Mord „abzuschaffen“, werden in der „rüstungsindustrie“ Waffen geschmie­det und ergeht die Forderung, gegen den Mord „zu feld zu ziehn“. In einer prä­zise treffenden Pointe und beißend-scharfen Paradoxie wird die Unlogik der Rüstungspropaganda decouvriert: „abzuschaffen/ den mord [...] fordern dich auf die mörder“, „abzuschaffen/ den mord“ – durch Mord – „fordern dich auf die mörder“. In einer „zeitung“ werde die „allgemeine mordpflicht“ verkündet, so heißt es im lehrgedicht über den mord, wohl in Anspielung auf die Einführung der Wehrpflicht 1956.[In den Zeilen über diese „mordpflicht“ wird auch der im Gedicht namhaft gemachte Gegensatz von Machern und Opfern, von Ausbeutern und Mitläufern noch einmal evoziert: Die Mörder stehen den Ausgebeuteten, den potentiellen Opfern im eigenen Land, gegenüber; sie werden die „partie“ nicht verlieren, „du“ wirst sie verlieren. Das Schachspiel oder Wettspiel mit gezinkten Karten wird verlieren, wie immer, der ‚kleine Mann‘, der Arbeiter und Kleinbürger, die große Masse. Das „blut der opfer“ bleibt sich immer gleich: „schwarz“. Schwarz ist die Farbe eingetrockneten Bluts. Mit dem „du“ wendet sich das lyrische Ich in Form einer suggestiven Apostrophe an die erwähnten ‚kleinen Leute‘: an den „bohrer“, „büttel“, „assessor“, „stift“, an den Handwerker, Gerichtsboten, Amtsgehilfen, Ordnungshüter, devoten Assistenten und Berufsanfänger, den abhängigen Lehr­ling ... „du“ bist schwer zu „ertragen“, „du“, „geburtshelfer des eigenen tods“; „schwerer“ als die Täter, die lämmerfressenden ‚Wölfe‘. Immergleich ist das Schicksal der Opfer und die Farbe ihres Bluts. Die Täter dagegen wechseln die „farben im schminktopf“ (von Braun zu Schwarz beispielsweise oder auch von Braun zu Rot), täuschen mit ihrer Maskerade die Abhängigen und bringen sich selbst in Sicherheit – mit ihren „luftkaravellen“. Die Herrschaftsclique bleibt die­selbe, geschickt wechselt sie ihre Tarnfarben. Die „mörder“, so impliziert das Gedicht, bleiben sich gleich, sind die Mörder von gestern und die Mörder von morgen. Enzensbergers Gleichsetzung in dieser warnenden Prophetie, diesem prophetischen Warngedicht vereint negative Uto­pie mit der Verdammung der NS-Barbarei; auf diese Weise kommt auch eine Art Gleichsetzung von „nationalsozialistischer Vergangenheit und Gegenwart“ zu­stande, wie sie wenig später immer wieder kritisch und warnend von APO und Studentenbewegung beschworen werden wird. In allen Bereichen der Gesell­schaft hatten ja in der Tat klammheimlich Vertreter des NS-Regimes wieder Fuß gefaßt. Aber die Konzeption „Vergangenheit als Zukunft“ impliziert auch, daß nicht nur die Gegenwart, sondern auch die „Zukunft“ die „gleichen Merkmale wie die NS-Vergangenheit“ aufweist.Die Pointe des Gedichts – eine negative Utopie, eine Dystopie – führt den „diebstahl“ über in „mord“, in potentiellen, drohenden, antizipierten „mord“. Der Text wird zur Satire (im Sinne Schillers und auch im ursprünglichen Sinn des Wortes). Damit entpuppt sich die ganze Brisanz des Gedicht-Titels: „sozial­partner in der rüstungsindustrie“. Die ‚kleinen Leute‘ werden zu Partnern der Industriellen in der Produktion von Waffen, die sie letzlich selbst treffen wer­den; Ausgebeutete und Opfer, blind und opportunistisch, erklären sich ein­ver­standen mit dem Ausgebeutetwerden und der Möglichkeit, dem „mord“, dem sie zuarbeiten, zum Opfer zu fallen. Sie werden zu den „partnern“ der „kondi­tor[en]“, die „gift“ für sie erzeugen. Diese „partnerschaft“ ist ein zum Selbst­zwang avancierter Zwang („eigener handschellen schmied“). Die Schafe werden zu den Partnern der Wölfe. Und merken es nicht („jeder nasführung aus-/ ge­liefert“)! Amnesie! Die Arbeitnehmer arrangieren sich mit den Arbeitgebern, genau das besagt der politische Fachterminus der Sozialpartnerschaft, der sich primär auf Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbände bezieht. In den 50er Jahren wird jene Partnerschaft bereits konzipiert und imaginiert, die dann in der Krise (nach der Bildung der Großen Koalition zwischen CDU/CSU und SPD 1966) als sogenannte Konzertierte Aktion von 1967 bis 1977 Realität werden wird. Das Gedicht karikiert mit seiner beißenden Ironie einen Terminus, bevor dieser noch wirklich in Umlauf ist. Enzensberger faßt den Antagonismus von „Hochgestellten“ und „Niedrigen“ (wie Brecht sagte) also zunächst relativ weit, um ihn dann in einer Engführung auf den Gegensatz ‚Herren der Mordinstrumente-Industrie‘ und sich selbst ge­fährdende ‚Knechte‘ zuzuspitzen. Anders als Brecht zeigt er – zumindest gilt dies von seinem lyrischen Ich – kein Verständnis mehr für die opportunistisch-blinde Masse der Abhängigen; in der „rüstungsindustrie“, die sich Enzensberger genial als Beispiel und Gegenstandsbereich wählt, erfährt die zugrundeliegende soziale Antithetik die allerschärfste Pointierung. Zwar ist in unserem Gedicht keine direkte Anspielung auf nukleare Waffen oder die Gefahr eines Atomkriegs zu entdecken, aber man kann nicht aus­schließen, daß eine solche Assoziation auch dem Telos des Gedichts bzw. dem Telos der beschriebenen „rüstungsindustrie“ innewohnt. Im Gedicht konjunktur ist vom „tödlichen köder“, die Rede, den die Angler und Metzger an der Bere­sina, dem Potomac und dem Rhein auswerfen, und in aussicht auf amortisation ist schon deutlich von „gehirnen aus draht“, von „bombern“ und „raketen“ die Rede. Daher ist anzunehmen, daß der „mord“, den die „rüstungsindustrie“ plant, auch ein von Atomwaffen regierter sein könnte. Eine solche Möglichkeit mag bewußt oder auch unbewußt – als Zeichen der apokalyptischen Endzeitstim­mung der Zeit – dem Gedicht integriert worden sein. Forderten doch Kanzler Adenauer und Verteidigungsminister Strauß, wie gesagt, ab 1957 Atomwaffen für die BRD und die NATO, nachdem im Koreakrieg 1950-1953 beinahe Atom­waf­fen gegen China eingesetzt worden waren und nachdem anläßlich des Ungarn-Aufstands 1956 die Gefahr eines Welt- und Atomkriegs erneut herauf­gezogen war; auch begann um 1957 der explosive Zweite Indochinakrieg (der Vietnamkrieg). Die beiden zuletzt zitierten Gedichte veranschaulichen, was Enzensbergers „böse gedichte“ von 1957 attackieren und wie dies geschieht. West und Ost, vor allem die zum „Wirtschaftswunder“ wiedererstarkende BRD mit ‚Konsumter­ror‘, Warenfetischismus, dem erneuten Gegensatz von Arm und Reich, der trü­gerischen „Sozialpartnerschaft“ und der Wiederbewaffnung sind Zielscheiben der wütenden, „zornigen“ Angriffe (wie sie ein ganzes Jahrzehnt später auch APO und Studentenbewegung formulieren werden). Keine Sphäre bleibt ver­schont; einige Stichworte, der verteidigung der wölfe entnommen[, mögen die Weite des Spektrums der Kritik andeu­ten: „rüsselnde händler“, „onanierende parlamente“, „engerlinge in uniform“, der mediokre Jedermann: der „stinkende bruder“ „in der trambahn“, der unerträgli­che „niemand“, die „bildzeitung“ Axel Cäsar Springers (deren unkritischer Opportunismus 10 Jahre später, 1967, Ziel­scheibe der Studentenbewegung sein wird), die Angehörigen der Unter- und Mittelschicht, welche die „lügen“ dieser Zeitung und ihren „betrug“ mit Genuß konsumieren, „manitypistin stenoküre“, die wiederaufrüstenden „henker“, „mordlust“ und „allgemeine mordpflicht“, „rüstungsindustrie“ und „kobalt“ (Atombombe), die „crew“ der „bomber“ (die konventionelle und vor allem atomare Bomben transportieren), „raketen“ (vor allem Atomraketen), „atomarer dreck“ (nuklearer Abfall), „abschußrampen“ (für Atomraketen), „armee­bischöfe“, „konjunkturen“ (die hausses der Industrie), „kurse“ (für Kapitalbe­sitzer und Spekulanten), verdienst-„kreuze“ (für Staats­treue), „öl“ im „hafen“, „ruß“ auf den Pflanzen im „garten“, „börsenblätter“ (für Aktionäre und Besitz­bürger), „kontrolluhren“ (für Arbeiter), „gaskammern“, „wahlpflicht“, der „töd­liche köder“ des Warenangebotes, „gehirne aus draht“ (militärisch und wirt­schaftlich genützte Computer) usw. Der Lyrik-Band lan­dessprache von 1960, in dem der „Zorn“ des „angry young man“ sich noch stei­gert, benennt weitere Sphären der kritischen Alphabetisierung der BRD. Eine Prosa-Parallele zu den lyrischen Attacken bilden die kritischen und provokativen Essays der 1962 er­scheinenden Einzelheiten. Der ironische Titel des letzten der „bösen Gedichte“ von 1957 verlieh dem Gedichtband seinen Namen: verteidigung der wölfe gegen die lämmer. In ihm sind ja – wie es schon die vorangegangenen Gedichte artikulierten – die autoritätshöri­gen, staatstreuen, blinden und gedankenlosen Untertanen und weniger die Herr­schenden Zielscheibe der Kritik; andererseits nehmen die ironi­schen und rheto­rischen Plädoyers für die makers of history natürlich nur zum Schein die Verant­wortlichen aus der Schußlinie. Doch die Opfer (die „somnam­bulen wahllosen wähler“, die „niemand[e] im windigen trenchcoat“) werden mit zur Verantwor­tung gezogen, ähnlich wie bereits in einigen wenigen Texten Brechts, dessen kri­tische Verdikte über die Klasse der Ausgebeuteten allerdings eine Rarität dar­stellten. Im auf Hitler gemünzten Kälbermarsch hieß es aber (wie schon er­wähnt): „Hinter der Trommel her/ Trotten die Kälber/ Das Fell für die Trom­mel/ Liefern sie selber.“ Dem entsprechend charakterisiert für Enzensber­ger das Verhältnis von Herr und Knecht „die liebe/ des metzgers zu seiner sau“. „[S]ie weiden euch.“

Em.Univ.-Prof. Dr.phil.

Hans Helmut Hiebel

Em.Univ.-Prof. Dr.phil. Hans Helmut Hiebel Institut für Germanistik

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